Viele Kritiker bezeichnen Etta Scollo als „die Stimme Siziliens“. Sie entführt ihr Publikum mit ihrem eigenen Stil, der irgendwo zwischen sizilianischer Tradition, Avantgarde, Jazz und Chanson liegt, in andere Welten.
Die Sprache und die Musik, das gedichtete Wort und der komponierte Klang: Bei Etta Scollo gehen die beiden eine ständig neu aufblühende Partnerschaft ein, seit sie 2005 mit „Canta Ro‘“ Gedichte ihrer Landsfrau Rosa Balisteri aufgegriffen hat. Nie zuvor jedoch hat die Sizilianerin Sprache in so umfassender Weise, aus so vielen unterschiedlichen Quellen in tönende Form gegossen wie auf ihrem neuen Werk: Auf „Il passo interiore“ begleitet sie den Menschen auf seiner inneren Reise - eine Reise mit Texten aus einem halben Jahrtausend, die philosophische, spirituelle und stets humanistische Züge besitzt.
Die phantastische Etta, egal wo auch immer sie gerade ihren Wohnsitz haben mag, ist eine bis ins Blut italienisch temperamentvolle Sängerin, die man locker auf eine Stufe mit Gianna Nanini stellen kann! Ok, sie hatte keine durchschlagenden internationalen Hits, aber ihre Adaption von "Hey Darling" und ihr "Sole, Sun, Soleil" bleiben jedem Homo Austriacus für ewig im Ohr. Voller Esprit, klasse arrangiert und höchst eindrucksvoll gesungen von einer der tollsten weiblichen Pop-Stimmen Italiens! Anspruchsvoll aber lässig, relaxt aber intensiv! Grazie, Etta!
Im Zeitalter der Mobilität, in dem der Mensch von A nach B gelangen kann wie nie zuvor, bleibt für Etta Scollo das größte Faszinosum eine Bewegung, die in allen Epochen da war und die man nicht sieht: der innere Schritt, „il passo interiore“. „Es ist die Reise des inneren Monologes, das individuelle, ganz subjektive Fühlen der Realität einer jeden und eines jeden“, erläutert sie. „Das ist eigentlich die wichtigste Reise eines Menschen, zu der dann die Reise des Kommunizierens nach außen tritt und natürlich die geographischen Reisen in der Welt. Dabei habe ich den Eindruck, dass die Realität oft von tiefen emotionalen Zuständen in etwas ganz Rationales, Alltägliches wechselt. Und ich habe immer wieder das Bedürfnis, alles in einem einzigen Bild zu sammeln.“ Wie lässt sich dieses innere Suchen mit all seinen Widersprüchen musikalisch abbilden und schlüssig bündeln? Nur mit dem Blick über Jahrhunderte hinweg, nur mit der Vereinigung ganz verschiedener Gattungen und Orte. Scollo schlägt hierfür einen großen Bogen von mystischer Lyrik zur politischen Rede, vom Liebesgedicht zum Zeitzeugen-Interview.
Solch ein groß angelegtes Unterfangen könnte in einer willkürlichen Collage enden. Doch Etta Scollos Kunstgriff ist, dass sie die disparaten Textformen mit einem Sound bündelt, der sie auf den letzten Alben schon oft begleitet hat. Ein Sound, in dessen Wesenskern die Farben von Barock und Renaissance siedeln. „Dieser Klang meldet sich immer wieder, wenn ich komponiere“, sagt sie, „und ich fühle darin eine gewisse Freiheit. In dieser Musik wohnt die Idee des singenden Erzählens, sie ist wie ein freies, schönes Spiel. Und ich sehe darin auch Verbindungen zum Bänkelsänger und zur Improvisation des modernen Jazz.“ Im Herzen ihrer Altbauwohnung schuf sie mit dem Tontechniker Kay Wäcke Texturen voll introspektiver Wärme, mit dem Akkordeon von Cathrin Pfeifer und dem Cello von Susanne Paul, perkussiven Extras auf tiefer Trommel, auf Schachteln und Honigdosen aus den Händen ihres langjährigen Freundes Patrice Heral. Chorsequenzen mit Cécile Kempenaers, Matthias Jahrmärkte und Tom heiß sowie der Saitenzauber auf Guitarra Portuguesa und Mandoline von Hinrich Dageför fügten sich ein. Ein „Geschenk“ nennt sie dieses fantastische Ensemble, das den Stationen der inneren Reise einen gemeinsamen Atem gab.
Dieser Atem schöpft am Anfang, im Stück „T‘alzasti“, aus der Innenschau: Scollos enger Freund, der spanische Poet Miguel Angel Cuevas, ließ sich hierfür vom Mystiker Johannes vom Kreuz inspirieren. Er erzählt, wie sich der Mensch von einer mehrschichtigen Kruste, einer schweren Last befreit – ein langsamer, allmählicher Aufstieg der Melodie spiegelt das wider. Das gibt die Kraft, den Impuls für den weiteren Flug. Auf ihm hören wir von der intimen Bittersüße des Lebens und der Liebe, Carmelo Assenza hat sie in einer uralten Sprache formuliert, aber universell gültig, klanglich verankert in der sizilianischen Folklore. Da ist das Sprechen über die innere Emigration, immer präsent in der Menschheitsgeschichte und exemplarisch gezeigt am Beispiel des ungarischen Komponisten Ligeti, dessen isoliertes Schaffen, dessen Weg zu erleuchteter Kunst sie in einem bedächtig nachhorchenden Walzer mit glühenden Pianofunken von Ferdinand von Seebach beschreibt. Und da ist das Gegenteil, die äußere, erzwungene Reise, die Migration des 21. Jahrhunderts, über die die ehemalige Bürgermeisterin von Lampedusa vor fünf Jahren in einem flammenden Appell an Europa sprach. Etta Scollo hat ihre Worte unverändert in eine Suite mit Folklorefarben gekleidet: „Heute, wo wir fast schon zynisch über das Thema Flüchtlinge sprechen, hat diese Rede fast den Gestus einer Poesie bekommen, einer zeitlosen Humanität“, sagt sie.
Es ist eine Humanität, die auch die weiteren Stücke von „Il passo interiore“ durchzieht: In einer bewegenden Trilogie über die Bergarbeiter hat Etta Scollo die Interviews einer Witwe, ihrer Tochter und eines Überlebenden des Grubenunglücks aus Paolo di Stefanos Buch „La catastròfa““ zu erschütternden Kleinoden geformt. Wie „die alltäglichen Gesten der Liebe trotz allem das Unglück überstrahlen“, das hat sie in einem geradezu innigen musikalischen Ton eingefangen. Und schließlich das Schicksal des Holocaust-Überlebenden Shlomo Venezia im Grundrauschen eines zunehmend rassistisch gefärbten Italien: Scollo fasst hier die erschöpfte Klage aus den Versen von Sebastiano Burgaretta in eine an die Nieren gehende musikalische Lamentatio, eingeleitet durch die dunkle Farbe von Tara Boumans Klarinette.
„All diese Geschichten haben sich wie selbst um mich herum zusammengestellt“, sagt Etta Scollo, „ich bin für sie nur das Werkzeug mit meiner Stimme.“ Eine Stimme, die sie im Finalstück nochmals mit der Verskunst von Miguel Angel Cuevas porträtiert. Die nach dem Aufflug des Beginns und nach all den Erzählungen nun zurückkehrt zum Staub, zur Erde. „Meine Stimme hatte für mich immer etwas mit der Erde zu tun, ich dachte nie, dass sie schön sei. Ich musste immer viel üben um sie weich zu bekommen. Die Art, wie ich Lieder singe, kommt aus dem Schmerz.“ Doch gerade durch diesen Schmerz, die vielen Notzustände, die die innere Reise auf ihrem neuen Album ausmachen, vermag Etta Scollo es, ihre intensive Beziehung zwischen Musik und Sprache herstellen. Mit „Il passo interiore“ hat sie etwas geschaffen, was für die Zukunft der Menschen, so glaubt sie, unerlässlich ist: „Das Wort muss zurückkehren in eine genuine Emotionalität - eine solche, wie sie die Musik hat, keine impulsive, gewalttätige. Das ist für mich die einzige Hoffnung: dass wir uns so selbst wieder finden und wieder human werden können.“