Eine explosive Klassiker-Übermalung und Befreiung. Ein Teilchenbeschleuniger. Von der schnellen Nummer bis zum Seelen-Trip. Endlich gibt es Schiller und Goethe für alle! 2 Literaten! 3 SchauspielerInnen! 1 Musiker!
Vom Handschuh, über die Glocke bis zum im Gewande versteckten Dolch, mit fieberndem Kind und rasendem Pferd – alles liegt in des Pudels Kern. Und im Wald, da gibt‘s die Räuber.
Das Staatstheater nimmt sein Publikum mit auf eine rasante, performative Reise durch die deutsche Weltliteratur von zwei ziemlich besten Freunden.
Kann man „Der Taucher“ auch tanzen? Oder ist das was für einen Poetry-Slam? Hat Gretchen immer Zöpfe oder geht auch Mini-Pli? Was ist der Lieblingswitz vom leidenden jungen Werther? Und ist Mephisto wirklich eine Frau?
In Zeiten von Netflix, in denen jeder 20.000 Filme zu Hause hat, bereitet das Staatstheater ein literarisches Grundelement unserer Sprache neu zu – als ob man alte Gerichte wieder kocht, wenn alle Sushi und Hamburger essen.
Serviert wird eine explosive Klassiker-Übermalung und Befreiung. Ein Teilchenbeschleuniger. Von der schnellen Nummer bis zum Seelen-Trip.
Altersempfehlung: von 14 bis 105 Jahren
Regie: Mona Kraushaar
Ausstattung: Esther Frommann
es spielen Daniela Bjelobradic • Carmen Gratl • Frank Röder
Musik: Maurizio Nardo
Produktionsleitung: Ute Heidorn
PremierenKritik
In Staatstheatern wird Goethe gespielt. Und Schiller. Kein Wunder also, dass auch das Innsbrucker Staatstheater, das weder staatlich noch staatstragend ist, sondern „frei und so weiter und so fort“ sein darf, irgendwann beim Weimarer Welttheater landet. Goethe und Schiller also, aber weniger „Tasso“ oder „Wallenstein“, sondern „Erlkönig“ und „Die Glocke“. Sprich Ge- und Verdichtetes, Balladen, von denen man – grau ist alle Theorie – zwar weiß, dass sie erzählend, ja hochdramatisch sind, aber eben vielgeprüfter Schulstoff mit Fokus auf Versmaß, Reimformen und Metrum. Dass Ballade aufs lateinische „ballare“ zurückgeht, also Tanz und Sich-ins-Getümmel-Werfen immer mitmeint, hat man auch irgendwann gelernt. Und so schnell vergessen, weil zwölf und mehr Balladen-Strophen zur Bürde werden, die jeden Sturm und alles Drängen dorthin drückt, wo nichts mehr wächst.
Für „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“, die aktuelle Staatstheater-Produktion im Treibhaus, sind Goethe und Schiller Material- und Spielzeuglieferanten. Das Stück ist düster-dunkle Nummernrevue, die Gedichte werden nicht nachgespielt, sie werden aufgespießt und abgeklopft. Verkörpert werden die Ideen und Zustände dahinter. So lassen sich auch althergebrachte Lesarten gegen den Strich bürsten – bis dem Heidenröslein auch der letzte Liebreiz ausgetrieben ist.
Eine Handlung gibt es dankenswerterweise nicht. Einige recht lose geknüpfte rote Fäden lassen sich ausmachen: Es – das deutet schon der Titel an – geht steil bergab; machtbewusste Monarchen entpuppen sich als schmierige Scharlatane, Idyllen als in Watte gepackte Albtraumlandschaften – und der Mensch als wahngetriebener Widerling. Einzig die Sprache, die einem einst beim Auswendiglernen so viel Bauchweh machte, strahlt. Und wie sie strahlt. So hält manch Erdenschweres auch zeitgemäße Ironie aus: wenn etwa Goethes „Farbenlehre“ mit Phil Collins’ Mega-Schmonzette „True Colors“ kurzgeschlossen wird. Überhaupt: Die Musik! Maurizio Nardo legt als DJ auf offener Bühne einen feingeklöppelten Soundteppich aus: Richard Strauss’ „Zarathustra“ klingt genauso an wie französische Grand Opéra. Es ist aber vorwärtsdrängender Beat, der Stück und Spiel schön und unaufdringlich taktet, bei der „Glocke“ zum Beispiel.
Auch die Darsteller beweisen musikalische Sensibilität: Frank Röder schmachtet als Gummimasken-Barde im Beinahe-Falsett und begleitet später eine an Punkröhre Nina Hagen orientierte Carmen Gratl mit Gitarre und Keith-Richards-Bandana. Bezaubernde Momente gelingen auch Daniela Bjelobradic, die mit präzise ausdrucksstarker Mimik treudeutsche Verse ins Vielsprachige öffnet. Überhaupt gibt es in Mona Kraushaars an eindrücklichen Bildern reicher Inszenierung viel bisweilen Unbesungenes zu entdecken: verletzliche Poesie zum Beispiel, die sich in drastischen Ausbrüchen entlädt, oder Verzweiflungsgesten, die ins Komische kippen. Letzterem trägt auch Esther Frommanns einmal mehr gelungene Ausstattung Rechnung: Auf den ersten Blick wirkt die Bühne schlicht und aufs Notwendigste reduziert. Genau besehen springen wunderbare Details ins Auge: Relikte vergangener Größe, die – wie die Balladen, die das Staatstheater diesmal zur Aufführung bringt – ihre tieftraurigen Geschichten erzählen.
* Joachim Leitner - in der tiroler tageszeitung