Bei den Live-Konzerten entwickeln sich seine modularen Kompositionen zwischen Klavier und Elektronik ständig weiter und folgt damit der Idee, dass Musik nicht fest geschrieben ist, sondern fortwährend in Verhandlung.
Der Konflikt steht Martin Kohlstedt ins Gesicht geschrieben. Dabei ist es egal, ob sich der Komponist und Pianist für einen Moment mit dem Publikum verbindet oder wieder in sein Refugium aus Klaviaturen für Stahlsaiten und
Synthesizer versinkt. Unnachgiebig sucht sein Blick, fühlt sich
durch irgendeinen Raum und ist damit dem Kopf meist um herzzerreißende Augenblicke voraus.
Als Musiker ist das ein Wagnis, ein provoziertes wie provozierendes Spiel am Rand der eigenen
Kontrolle, als Komponist dagegen hat das Konzept. Denn für die Energie und Unberechenbarkeit
seiner Konzerte ist Kohlstedt, unübersehbar Bursche vom Thüringer Land, durchaus berüchtigt
und hat es damit von der Russischen Staatsbibliothek über die iranische Talare Rudaki bis in den
ausverkauften großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie gebracht. Doch man findet bei all dem
keine Attitüde der großen Inszenierung wegen, nur eine andere Art, Musik zu denken und mit ihr
zu kommunizieren: Es gibt keine Werke, dafür kompositorische Versatzstücke, deren Kraft in dem
Potenzial ihrer Kombinierbarkeit und Variationen liegt. Diese Module, wie Kohlstedt sie nennt,
ergeben gerade in ihrer Verbindung unvorhersehbare Pointen und Konflikte.
Das gilt nicht nur für seine Konzerte. Schon auf den Schwester Alben »Tag« und »Nacht« (2012 /
2014) wirkt die Format bedingte Aufnahme wie das notwendige Übel, eine ihrer Ausformungen
festzuhalten. Voyeuristisch wohnt man einer Begegnung Kohlstedts mit seinem heimischen Piano
bei. Mit »Strom« (2017) lösen sich dann die Schablonen der Bühnenfigur und ihres Instrumentes
endgültig auf, in einem berauschenden Wirbel aus Klaviermelodien und elektronischen
Landschaften. Es ist keine Grenze mehr auszumachen zwischen Neu und Alt oder zwischen
analoger und digitaler Instrumentierung. Sound und Struktur treten hinter den Wunsch, Momente
einfach zuzulassen. Als Motiv sind sie für Kohlstedt so inspirierend wie die Sprache seiner Hände
für uns Musik als ein sozialer Zustand.
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Kollaborationen schon immer ein zentraler
Bestandteil von Kohlstedts Schaffen waren. Um seine künstlerische Sicht einer starken Reibung
auszusetzen, hat er auf zwei Rework EPs genreübergreifend mit Elektro, Hiphop und Pop Künstlern zusammengearbeitet darunter Christian Löffler, Douglas Dare, FM Belfast, Dwig und
Hundreds. Das Interdisziplinäre liegt ihm, dem Getriebenen, der nie wirklich in der Klassik
heimisch wurde. So studierte er Medienkunst an der Bauhaus Universität
Weimar und bis heute komponiert Martin Kohlstedt regelmäßig für internationale Filmemacher oder wirkt an der
Produktion von Hörspielen und Theaterstücken mit.
2019 wird dieser ‚Werk’ Körper nun weiterverhandelt und es wäre nicht Martin Kohlstedt, würde
er dafür nicht zur gerade größtmöglichen Fallhöhe streben: Zusammen mit dem bis zu 70 Stimmen
starken GewandhausChor zu Leipzig und dessen künstlerischen Leiter Gregor Meyer arrangiert,
kuratiert und erforscht Kohlstedt die Interaktion des menschlichen Kollektivs mit der streitbaren
Intuition des Musikers. »Ströme« (Edition Kohlstedt / Warner Classics) macht sich dabei seine
Erfahrung zunutze, und die seiner langjährigen Wegbegleiter, das Aufeinandertreffen beider ganz
für sich stehenzulassen und als Experiment die Möglichkeit des Scheiterns zu geben.
Das Ergebnis ist pure Dynamik, voll von monumentalen Verwerfungen und zarten Annäherungen, aber befreit
von jeder Angst vor dem, was Klassik sein darf.