Wolfgang Beckers "Good bye, Lenin!" wurde als DIE deutsche Komödie des Jahres 2003 gefeiert. Dabei geht es im Film vor allem um eines: Abschiednehmen und Tod. oder: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."
Deutschland 2003; Regie: Wolfgang Becker; Buch: Bernd Lichtenberg; Kamera: Martin Kukula; Musik: Yann Tiersen; DarstellerInnen: Daniel Brühl (Alex Kerner), Katrin Saß (Christiane Kerner), Chulpan Khamatova, Maria Simon, Florian Lukas, Alexander Beyer u.a.; 121min.
"Wer zu spät kommt, den straft das Leben." Als der zur Redewendung geronnene Spruch Gorbatschows aus dem Autoradio blökt, können zwei Ostberliner Krankenwagenfahrer nur bitter lachen. Es ist Sommer 1990. Seit dem Mauerfall ist knapp ein halbes Jahr vergangen, und für die Ostdeutschen beginnt allmählich das Erwachen aus dem Wende-Taumel. Alex Kerner (Daniel Brühl) sitzt hinten bei seiner Mutter (Katrin Sass) im Krankenwagen, und beide fahren sie nach Hause, in ihre 79 qm Plattenbau-Wohnung in Berlin-Mitte. Dort herrscht sie noch, die graue Deutsche Demokratische Republik, während sonstwo längst D-Mark, Burger King und BMW zum Siegeszug angesetzt haben.
Im Schlafzimmer stehen die alten Resopalmöbel. Auch Leninbüste und Spreewaldgurken sind da. Die Schwester recycelt DDR-Mode, und im TV läuft (ab Video) die "Aktuelle Kamera", wo Planerfüllung vermeldet wird. Die ganze Zombie-Show hat Alex aufgezogen, um seiner Mutter, die acht Monate lang im Koma gelegen hat, den lebensgefährlichen Schock über die welthistorischen Veränderungen zu ersparen. In der Zeit vor der Wende nämlich, da war Mutter Christiane Kerner eine sehr engagierte DDR-Bürgerin, und weil der Doktor denkt, dass seine Patientin die Aufregung um den Systemwechsel nicht überleben würde.
Ein hinreissender Plot, den sich Bernd Lichtenfeld und Wolfgang Becker da ausgedacht haben. Er liesse Raum für endlosen Unfug mit dem Erbe der DDR. Doch bei aller Komik, die sich aus Alex’ verzweifelter theatralischer Sendung ergibt, ist "Good bye, Lenin!" vor allem ein Film über Leben und Tod. Und das ist gut so. Denn nach all den Jahren mit Comedymüll, wo vor allem die Neurosen der Sieger durchgenudelt wurden, hat der deutsche Film für einmal die Menschen der unteren Einkommensskala erreicht. Jenen Human-Abfall, der es laut Gorbatschow nicht gerafft hat und deshalb auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist. Regisseur Wolfgang Becker führt die Ossis nicht vor, macht auch nicht auf "Ostalgie". Ihn interessieren die Spuren, die die 40 Jahre deutsch-deutsche Geschichte im Leben der Menschen hinterlassen haben.
Waren schon "Kinderspiele" (1992) und "Das Leben ist eine Baustelle" (1997) Initiations- und Familiendramen mit komischem Einschlag gewesen, beleuchtet Becker auch in "Good bye, Lenin!" irre gewordene Verhältnisse in der Kleinfamilie. Wie seine britischen Vorbilder Ken Loach und Mike Leigh erzählt Becker realistisch entlang jener Geheimnisse und Lügen, die das Leben der kleinen Leute bestimmen und es zum Narrenhaus machen. Zerfall ist überall, und wer ihn aufzuhalten versucht, macht sich zum Idioten. Nicht nur Staaten, auch Ehen kollabieren. Familien streben auseinander, die Kinder rebellieren, verschwinden, und die einstigen Träume zerreibt das Mühlwerk der Geschichte.
Es ist kein zynischer, sondern ein äusserst liebevoller Umgang, den Becker mit seinen Figuren pflegt. Und obwohl es um jene geht, die von "Geschichte" normalerweise plattgewalzt werden, vermeidet Becker Sozialkitsch und ästhetisierte Trostlosigkeit. Zum Schluss nämlich stellt Alex erstaunt fest, dass im Zimmer der Plattenbau-Wohnung eine fast liebenswerte DDR entstanden ist. So wird die deutsch-deutsche Geschichtslektion schliesslich zum subversiven Gedankenspiel. Was wäre geschehen, hätte sich die DDR tatsächlich so entwickelt, wie sie das im Schlafzimmer der Familie Kerner tut? So kreuzbieder, absurd und in ihrer Langsamkeit trotzdem irgendwie sympathisch? Hätte die Geschichte dann möglicherweise einen anderen Verlauf genommen?