treibhaus

Kulturprogramm für Stadtbenützer

Spielplatz am Volksgarten. Angerzellgasse 8, 6020 Innsbruck. Geöffnet alltäglich von 16:00 bis Sperrstund ist.

VADIM NESELOVSKYi - ODESA SUiTE. a Musical Walk Through a Legendary City

PREMIERENKRITIK

VADIM NESELOVSKYi: Die Odessa-Suite ist seine große Erzählung. PIANO SOLO.

Extrem sei zurzeit der Widerspruch zwischen den im Ukraine-Krieg erlebbaren „dunkelsten Seiten der Menschheit“ und andererseits den vielfältigen Demonstrationen, „wie gut Menschen zueinander sein können“. Der Pianist Vadim Neselovskyi stellt seinem Solo-Recital im Krefelder Theater eine bewegende Ansprache voran. Noch mehr wirkte seine „Odessa-Suite“ wie eine tief persönliche musikalische Erzählung. Über sich selbst und seine Geburtsstadt an der südwestukrainischen Schwarzmeerküste. Über den Reichtum von Kultur an sich und über die Empfindungen der Menschen, die er dort kennt. Die dort gerade in Überlebensangst ausharren und zu denen er in regelmäßigem Kontakt steht...

Neselovskyis Rede hatte für die passenden Bilder im Kopf gesorgt, dass die Musik auf Anhieb wirkte. Einige im Publikum hatten schon nach wenigen Minuten Tränen in den Augen, sobald sie von den vielschichtigen Impressionen und Improvisationen dieser Musik, die sich keiner Stilschublade unterordnen will, mitgerissen wurden. Herrlich verrückte Tanzfiguren suggerieren die Lebenslust der Menschen in dieser vibrierenden Kulturmetropole mit seinen vielseitigen Einflüssen, wo aber das bunte Leben seit dem 24. Februar weitgehend erstarrt ist. In zarten melodischen Gebilden spürt Neselovskyis Spiel den zerbrechlichsten Empfindungen der Menschen nach. Es könnte ein Wiegenlied sein, um ein Kind in einen friedlichen Schlaf zu bringen. Kann jetzt überhaupt noch jemand friedlich schlafen in diesem Land? Hart und gewalttätig gebärdet sich das Spiel im Mittelteil der Suite. Was ursprünglich dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung von Odessa im zweiten Weltkrieg gewidmet war, ist nun mit neuer, fürchterlicher Aktualität aufgeladen: Jetzt suggeriert jeder donnernde Impuls auf dem Flügel die ständigen Bomben- und Raketeneinschläge.

Nein, zur Flucht aus der Wirklichkeit taugte dieser Konzertabend wohl kaum. Unerschöpflich entfaltete sich Neselovskyis künstlerisches Potenzial, das auf Klassik, Jazz und Elementen aus östlichen Volksmusiken, vor allem aus jüdischen Stilistiken baut. Letzteres hat er in den letzten Jahren durch seine Zusammenarbeit mit John Zorn weiter vertieft. Neselovskyis größtes Kapital ist seine permanent Grenzen sprengende Gewandtheit in der Improvisation. Und ja, diese Musik spendet Trost durch ihren kraftvollen Geist von Freiheit und ihren erfrischenden Weitblick. Raffiniert eingestreute Zitate aus Chopins Revolutionsetude wollen sagen, dass in jeder Epoche ein Hunger nach Freiheit besteht. Ein rockiger, mächtig auftrumpfender Part huldigt einem berühmten russischen Rockmusiker, den Neselovskyi als „Moskauer Jim Morrison“ bezeichnete und der in den letzten Jahren ein Sprachrohr für eine freiheitsliebende junge Generation in Russland geworden ist.

Es dauerte einige stille Sekunden, bevor im Krefelder Glasfoyer der Applaus losbrach und es das Publikum von den Sitzen riss. Als Zugabe spielte Vadim Neselovskyi eine Bach-Sinfonia, denn Bach sei in diesen Tagen seine beste Therapie, wie er ausführt. Das fordernde Crescendo, mit dem er den barocken Satz auflädt, appellierte schon wieder unmissverständlich an die Freiheit. 

Nachdem über Nacht der Krieg über die Ukraine gekommen war, verstummte Vadim Neseloswkyis Klavier erst einmal. Die Mauer zu durchbrechen und wieder zu spielen, kam einem aufwühlenden Kraftakt gleich, der dann einen Produktivitätsschub ohne Beispiel freigesetzt hat.mit einem gefeierten Doppelauftritt beider JAZZAHEAD in Bremen.

 

VADIM NESELOVSKYi: PIANO

Als junger Pianist, der in Odessa/Ukraine aufwächst, entdeckte Vadim Neselovskyi frühzeitig, dass es nicht seine Aufgabe ist, bestimmten stilistischen Strömungen zu folgen sondern einfach selber ein Schöpfer von Musik zu werden. Das hat er seither mannigfach auf so erfinderische wie unerwartete Weise getan: als Komponist vom Jazztrio bis zum Sinfonieorchester, als Improvisator auf überraschenden Wegen zwischen straightahead und cutting edge, und als Partner, gleichermaßen geschätzt von Kollegen und Mentoren.
Einst als Wunderkind jüngster klassischer Klavier-Student in der damals noch sowjetischen Ukraine, hörte er Keith Jarrett, Chick Corea usw nur per CDs, die Seeleute in die Hafenstadt mitbrachten. Als Vadim 17 Jahre alt und eigentlich bereits ein „fertiger“ klassischer Pianist war, emigrierte seine Familie nach Dortmund und er beschloss Jazz im Land seines Ursprungs zu studieren. Er ging an die Berklee School in Boston.

Mit seinen vielfältigen Talenten zog er die Aufmerksamkeit z.B. von dem großen Lehrer und Vibraphonisten Gary Burton auf sich, der Vadim in sein legendäres Generation Quintet holte. Auf Vorschlag von Herbie Hancock bekam er später ein volles Stipendium am Thelonious Monk Institute. John Zorn lud ihn ein zu The Book Beriah, dem letzten Akt seines Vierteljahrhundert-Projektes Masada. Seine erste Solo-CD produzierte 2013 kein Geringerer als Fred Hersch. Mit dem russischen Hornisten Arkady Shilkloper verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit. Die beiden gastierten bereits sowohl bei der jazzahead! als auch im Sendesaal. Bei der Gelegenheit spielte er auch erste Ausschnitte aus der seiner Heimatstadt gewidmeten Odessa Suite, die er gegenwärtig im Sendesaal aufnimmt.

“I don’t think I have ever met an improviser who has more surprises in store…a true Genius.” - Gary Burton

Musik erzählt immer eine Geschichte. Aber manchmal ist diese besonders eindringlich. Etwa auf diesem Album. Da fallen mal die Töne wie Schneeflocken, als wäre es ein Impromptu von Robert Schumann, das Stück heißt „Winter in Odessa“. Dann wieder, die Nummer heißt „Central Station“, treibt ein Beat machtvoll vorwärts, man hört Züge ankommen und abfahren, obwohl alles nur Soloklavier ist.

Egal, ob man Klassik liebt oder Jazz oder Chanson oder Ragtime – all das wird hier eins. Manch eine Passage erinnert ein wenig an die Stücke von Charlie Chaplin, der ja auch komponierte, oder an George Gershwin, vor allem an den „Amerikaner in Paris“ – kraftvolle Musik, sehr intellektuell, aber immer noch voller Swing. Und dann kommt ein Solo, eine so markante und klare Improvisation, die mühelos das oberste Niveau des aktuellen Jazz erreicht.

Der Mann, der so genial Klavier spielt, heißt Vadim Neselovskyi. Er hat einen deutschen und einen ukrainischen Pass. Er ist Professor am Berklee College of Music in Boston, der besten Musikschule der Welt. Er spielt mit den Größten des Jazz. Hierzulande kennt kaum einer den 44-Jährigen. Das sollte sich ändern – jetzt mit seinem Album „Odesa“. Gemeint ist Odessa, die Millionenstadt am Schwarzen Meer, in der zurzeit Raketen einschlagen. Neselovskyi ahnte davon nichts beim Aufnehmen, er hat zwei Jahre an dem Album gearbeitet, kurz vor Kriegsausbruch war es fertig.

Dies müsste eigentlich eine Geschichte über einen klugen und hochbegabten Musiker sein, der im internationalen Jazz anerkannt ist und auch in Deutschland zu entdecken wäre. Weil der Krieg aber alles überschattet, ist es auf einmal eine Geschichte darüber, wie auch die Kunst sich politisiert.

„Leider kann ich an gar nichts anderes mehr denken“, sagt Neselovskyi. „Wir dachten doch von dieser Welt, dass es keinen Krieg mehr gibt, wir arbeiten stattdessen an Themen wie der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, am Umweltschutz, und nun ist doch wieder alles auf eine Frage reduziert. Böse und Gut, schwarz und weiß. Das verändert die Kunst, das verändert alles für uns Künstler.“

Als Musikprofessor unterrichtet er Menschen aus der ganzen Welt. Auch zwei Russen sind in seinen Kursen. Sie demonstrieren nun mit ihm gegen den Krieg. „Seit dem 24. Februar denke ich: Alle sind verloren. Die Welt wird nicht mehr so sein, wie sie vorher war“, sagt Neselovskyi.

Und: „Kann man da noch sagen: Let’s groove?“ Er sagt auch, er sehe den Krieg in Syrien jetzt anders. Es sei für ihn schmerzhaft, dass wir die Situation so ausgeblendet haben. „Wie oft habe ich ganz normal weitergemacht, wenn in Syrien Bomben fielen?“

FAZ 8.5.2022

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