Er ist Jazzpianist, sie klassische Cellistin. Musikalisch war es zwischen beiden Liebe auf den ersten Blick. Im Duo gelingt François Couturier und Anja Lechner eine subtile und selten so geglückte Fusion beider Welten.(ECM)
Eine langhaarige Frau sitzt lächelnd mit einem Cello und Bogen in der Hand neben einem Mann am Flügel, der lachend seine Hände von der Tastatur reißt.
Sie haben sich mit ihrer Musik öfters auf Filme bezogen, u.a. von Peter Brook, Andrei Tarkovski und Federico Fellini: Anja Lechner und François Couturier .
Den Auslöser für ihre Zusammenarbeit bildet „Nostalghia – Song for Tarkovsky“, dem Regisseur des Kultfilms „Stalker“ gewidmet; das Album entsteht im Winter 2005 in Lugano. Seitdem bringt das dafür gegründete Tarkovsky Quartet um den Pianisten und Komponisten François Couturier die Anatomie der Melancholie zum Klingen. Die beiden Pole des Quartetts, Couturier und Anja Lechner, stehen für musikalische Risikofreude, den Willen zum west-östlichen Dialog und die Freiheit, sich auch mal ein Prélude von Henri Dutilleux oder eine Bach-Kantate vorzunehmen. Neben drei Alben mit dem Tarkovsky Quartet nahmen die beiden in anderer Besetzung auch eine atmosphärisch-exzentrische Hommage an den Barock-Komponisten Pergolesi auf (2013). Ein Jahr später kam ihr erstes Album als Duo heraus: „Moderato cantabile“ folgte Spuren von Armenien bis nach Katalonien, zu Komitas Vardapet, G.I. Gurdjieff und Federico Mompou. Aus Couturiers Arbeit mit dem tunesischen Oudspieler Anouar Brahem und Lechners langjährigem Duo mit dem Argentinier Dino Saluzzi resultierten Erfahrungen und Entdeckungen, die ihr musikalisches Zwiegespräch stets neu stimulieren. Davon zeugt als gleichsam tönendes Reisetagebuch das faszinierende neue Album „Lontano“
Seit Jahrzehnten treten sie gemeinsam auf. Jetzt veröffentlichen die Cellistin Anja Lechner und der Pianist François Couturier ihr zweites ECM-Album und verleihen ihrer Improvisationskunst eine noch eigenwilligere Note.
Der künstlerische Rang eines kammermusikalischen Projekts bemisst sich nicht allein an der Virtuosität oder dem poetischen Ausdrucksvermögen der teilnehmenden Solisten. Das Wissen um den Anderen, um seine momentane Stimmung, seine Art zu spielen, zu fühlen und zu denken, ist mindestens genauso wichtig. Anja Lechner und François Couturier haben mit solchen emotionalen Prozessen Erfahrung. Die deutsche Cellistin und der französische Pianist musizieren seit zwei Jahrzehnten in unterschiedlichen Konstellationen zusammen. In den gemeinsamen Jahren beim Tarkovsky Quartet entwickelten sie ein Gespür füreinander und eroberten klangliches Neuland. An der Seite von Jean-Marc Larché (Saxophon) und Jean-Louis Matinier (Akkordeon) machten sie sich jene melancholische Ästhetik der Langsamkeit zu eigen, die in den epischen Filmen des sowjetischen Regisseurs Andrei Tarkovsky bildhaft vorgeprägt war und beim Münchener Label ECM New Series musikalisch nachhallte.
Tarkovsky, im künstlerischen Selbstverständnis des ECM-Produzenten Manfred Eicher eine Schlüsselgestalt, ging es um die “versiegelte Zeit”, um verborgene Tiefen spirituellen und poetischen Sinns. Diesen Sphären vermag man sich nicht benennend oder analytisch zu nähern. Sie zeichnen sich ab, wenn man ihnen in Bildern, Erzählungen und Klängen nachspürt.
Anja Lechner und François Couturier bewegen sich im Medium der Musik auf der Spur ihres je individuellen und gemeinsamen Zeiterlebens. Couturier beschwört im Booklet zu dem neuen Album des Duos die “geteilte musikalische Erinnerung” der beiden Solisten. Dass manche Stücke wie notiert erscheinen, obwohl sie improvisiert sind, führt der Klaviervirtuose auf seine musikalische “Komplizenschaft” mit Anja Lechner zurück. Doch so stark ihnen der lange Atem der Geschichte nachweht: Lechner und Couturier sind weit davon entfernt, sich einem nostalgischen Sog hinzugeben. Beide betonen den gegenwartsbezogenen Aspekt des Musizierens, das Hier und Jetzt der Aneignung, die unweigerliche Modernität. Couturier spricht von “magischen Augenblicken”, Lechner von der Musik als “Gestalt, die mich neugierig macht, herausfordert und berührt”. Diese Berührung findet in einem konkreten Moment statt. Und doch kann man die “versiegelte Zeit” geschichtsorientierter oder losgelöster aufbrechen und musikalisch in Bewegung bringen.
Der moderne Ansatz, dass Hier und Jetzt der Aneignung, ist bei Anja Lechner und François Couturier noch nie so deutlich zutage getreten wie in ihrem neuen Album “Lontano”. Bereits ihr Duo-Debüt, das 2014 unter dem Titel “Moderato cantabile” bei ECM New Series in München erschien, hatte durch seine stark improvisatorische Note die poetische Originalität von Lechner und Couturier hervortreten lassen. Doch durch die konzentrierte Einfühlung in Komponisten wie Georges I. Gurdjieff oder Komitas Vardapet war ihr Debüt fester im Netz der Überlieferung gefangen, als dies bei ihrem neuen Album der Fall ist. Obwohl sie in “Lontano” mit Werken von Ariel Ramírez, Giya Kancheli, Anouar Brahem und Henri Dutilleux viel fremdes Repertoire aufgreifen, bildet das Album einen deutlich spürbaren Emanzipationsprozess ab. Lechner und Couturier haben zahlreiche Eigenkompositionen in ihr neues Programm aufgenommen, und ihr Rückgriff auf Werke oder Motive anderer Komponisten wirkt noch freier als früher. Kurz: Die beiden Solisten haben als Duo zu ihrem Stil gefunden.
Die Mitte ihres Musizierens bilden gesangliche Motive. Das trägt Anja Lechners Überzeugung Rechnung, dass das Cello wie kaum ein anderes Instrument zum Singen prädestiniert ist. François Couturiers Stärke am Klavier sind dynamische Akzente und harmonische Verfeinerungen der elegischen Melodien, die Anja Lechner am Cello ebenso empfindsam wie scharf konturiert vorträgt. Die poetische Stimmung auf dem Album trägt immer noch Züge der Tarkovskyschen Melancholie. Aber der Ton ist intimer, die Farbpalette breiter und die expressive Sicherheit der beiden Solisten größer geworden als zu Zeiten ihres Duo-Debüts und des Tarkovsky Quartet.
ANJA LECHNER
Was Anja Lechners Spiel auszeichnet, ist neben technischer Perfektion und musikalischer Tiefe ihre Vielseitigkeit. Ungeachtet ihrer klassischen Ausbildung verfügt die Cellistin über außergewöhnliche Fähigkeiten zur Improvisation. Früh hat Anja Lechner dieses Talent zum freien Spiel entdeckt, ihr Repertoire umfasst längst nicht mehr nur klassische Kammermusik. Die Neugierde der Cellistin, dem Fremden, Unsagbaren in der Musik nachzuspüren, macht sie zur Forscherin im Grenzbereich von notierter und improvisierter Musik, lässt sie die unterschiedlichsten Kulturen und Regionen der Welt musikalisch erkunden. Eine Vielzahl verschiedener Kooperationen und Projekte spiegelt Anja Lechners Talent zu einfühlsamer Interpretation und Improvisation in unterschiedlichen Klangwelten wieder, ihr eigener, unverwechselbarer, warmer, klarer Ton bleibt dabei stets spürbar.
Einem breiten Publikum bekannt wurde Anja Lechner als Gründungsmitglied des Rosamunde Quartetts, das von 1991 bis zu seiner Auflösung 2009 zu den gefragtesten und innovativsten Streichquartetten in der internationalen Musikszene zählte. Die zahlreichen Einspielungen für ECM Records wurden von der Kritik hoch gelobt und mehrfach ausgezeichnet (u.a. zweimal Preis der deutschen Schallplattenkritik, Grammy- Nominierung). Das Quartett gastierte bei internationalen Festivals und Konzerten u. a. im Amsterdamer Concertgebouw, der Londoner Wigmore Hall, dem Megaron in Athen oder der Berliner Philharmonie.
Das Spektrum von Anja Lechners musikalischer Arbeit reicht von regelmäßigen solistischen Auftritten mit Orchestern wie dem Münchner Kammerorchester, der Amsterdam Sinfonietta, dem Tallinn Chamber Orchestra oder dem Armenian Philharmonic Orchestra über Uraufführungen eigens für sie komponierter Werke von Komponisten wie Tigran Mansurian, Valentin Silvestrov, Zad Moultaka, Alexandra Filonenko oder Annette Focks, bis hin zu Projekten im Grenzbereich der Kulturen, Genres und Stile. Ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem argentinischen Bandoneon-Meister Dino Saluzzi (“As close to perfection as any music-making I can recently recall” Richard Cook, Jazz Review ), wurde 2011 von dem Filmemacher Norbert Wiedmer (Sounds and Silence) in dem umfassenden Portrait „El Encuentro ein Film für Bandoneon und Violoncello“ dokumentiert. In kammermusikalischen Ensembles musiziert sie mit Künstlern wie, Alexej Lubimov, Kirill Gerstein, Patricia Kopatchinskaja, Pablo Márquez, Reto Bieri und Agnès Vesterman, oder mit improvisierenden Musikern wie François Couturier, Vassilis Tsabropoulos, Maria Pia de Vito, Eivind Aarset und Michele Rabbia .
Seit 1996 entstanden bei ECM Records eine Reihe herausragender Aufnahmen, die die Cellistin als unverwechselbare Stimme international bekannt gemacht haben. Geboren in Kassel, wuchs Anja Lechner in Neubeuern am Inn auf und studierte bei Heinrich Schiff in Köln und Basel. Ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglichte ihr einen Aufenthalt in Bloomington/USA, wo sie bei Janos Starker weitere Anregungen erhielt.
MODERATO CANTABILE.
Anja Lechner violoncello
François Couturier piano
Die musikalische Affinität zwischen Anja Lechner und François Couturier ist durch ihre gemeinsamen Konzerte und Einspielungen mit dem Tarkovsky Quartet jedem Zuhörer längst deutlich geworden. In diesem neuen Duo-Projekt spannen die deutsche Cellistin und der französische Pianist einen noch weiteren musikalischen Bogen, indem sie Stücke von G.I. Gurdjieff, Frederic Mompou und Anouar Brahem, aber auch eigene Kompositionen Couturiers spielen. Neue Arrangements, freie Interpretation und Improvisation zeichnen ihre Ergründung eines Repertoires aus, das metaphorisch aber auch musikgeschichtlich beim Aufeinandertreffen von Orient und Okzident ansetzt.