THE LICHTENBERG FIGURES
Wenn sich Elektrizität auf Hochspannung auf oder in einem isolierenden Material entlädt, dann passiert etwas Faszinierendes: Wie von Zauberhand entstehen baumartige Muster mit kleinsten Verästelungen, ähnlich der Form eines in viele Richtungen ausladenden Blitzes. Der deutsche Physiker Georg Christoph Lichtenberg hat zum ersten Mal eine solche Figur erzeugt, auf einer mit Staub bedeckten geladenen Isolatorplatte. „Unter anderem habe ich mit einem einzigen Schlag eine Menge Concentrischer Circkel hervorgebracht“, schreibt er in einem Brief über seine Entdeckung. „Es ist freilich gespielt, allein ein so schönes lehrreiches Spiel, dass ich mich dessen nie schämen werde.“ Mittlerweile gibt es Firmen, die Lichtenberg-Figuren auf Holz brennen und die gezeichneten Gegenstände für viel Geld verkaufen. Mit Eva Reiters Werk hat der sichtbar gewordene, für immer auf einem Material verewigte Blitz vor vier Jahren auch zum Klang gefunden: eine Folge von sieben Titeln für Stimme und Ensemble und sechs instrumentalen Zwischenspielen mit einem vorangestellten Prolog. Reiter beschäftigt sich in ihrer Arbeit immer wieder mit naturwissenschaftlichen Ereignissen und Gegebenheiten und überträgt ihre Auseinandersetzung mit diesen auf andere Kontexte. The Lichtenberg Figures ist für sie demnach ein „klingendes Psychogramm einer Gesellschaft“, wie sie selbst schreibt: „Wir tauchen immer wieder in gespiegelte, verzerrte, gebrochene Klangwelten ein, in denen der Hörer geblendet wird von Täuschungen und halluzinatorischen Sounds.“ Wie ein Text auch kann die metaphernreiche Welt dieses Werks „als eine Art persönliches Koordinatensystem, ein offenes Bezugssystem der eigenen Identität des Hörers verstanden werden.“