Lauter Fremde! WIE DER GESELLSCHAFTLICHE ZUSAMMENHALT ZERBRICHT.
Ein Riss geht durch das Land. Auf der einen Seite stehen jene, die für mehr Miteinander, mehr Solidarität, mehr Offenheit eintreten. Auf der anderen jene, die zurück möchten in die „gute, alte Zeit“, als es noch keine Globalisierung gab, keine Flüchtlinge und keine Angst vor sozialem Abstieg. Die Bruchlinien gehen quer durch die Familien, sogar Freundschaften zerbrechen daran.
Warum ist heute eine aggressionslose Kommunikation darüber kaum mehr möglich? Warum werden Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt für alles, was schief läuft in diesem Land? In ihrer Analyse greift Livia Klingl die Vorurteile auf, sortiert sie und zeigt: Die Flüchtlingsfrage ist oft nur eine Ausrede, um sich mit den wirklichen Problemen nicht beschäftigen zu müssen.
Mit 21 Menschen hat Livia Klingl Interviews zum Thema Fremdheit und Fremdsein geführt. Entstanden sind 21 Porträts, die zeigen, welch vielfältiges Mosaik unsere Gesellschaft ist. Unter den Interviewten sind: Muna Duzdar, Lojze Wieser, Hannah Lessing, Nina Kusturica, Silvana Meixner, Klaus Oppitz, Johannes Voggenhuber.
Wir können doch nicht alle nehmen!
„Wir können doch nicht alle nehmen!“
Klingl beschreibt in ihrem Buch einerseits die Lage von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Österreich früher und heute – und schildert in kurzen Porträts zum Teil irrwitzige Flüchtlingsgeschichten. So wie die des 18-jährigen Bagher Ahmadi, der mit 13 aus Afghanistan flüchtete und u.a. im Iran zwei Jahre als Schneider arbeitete, um sich das Geld für die Schlepper zu verdienen.
Nicht gutmenschig, sondern hochgradig pragmatisch greift Livia Klingl ein heißes Eisen an: Während immer mehr Menschen vor Gewalt und religiösem Fanatismus, vor Krieg und Hunger fliehen, zieht Europa die Festungsmauern hoch – und beraubt sich damit selbst vieler Zukunftschancen. Es ist nicht nur humanitäre Pflicht und geltendes Gesetz, Flüchtlinge aufzunehmen, es ist auch sinnvoll, ja notwendig, Zuwanderung zuzulassen.
Die Geburtenraten in Europa sinken, die Menschen werden immer älter, beides Faktoren, die den Wohlstand und das Sozialsystem ins Wanken bringen. Selbst wenn es kaum jemanden schert, dass das Mittelmeer zum Massengrab verkommen ist und gegen jene Fremden Stimmung gemacht wird, die es mittels professioneller Schmuggler bis zu uns geschafft haben: Es wäre aus reinem Eigennutz hoch an der Zeit für eine neue Ausländerpolitik. Eine, die es Flüchtlingen ermöglicht, in einem solidarischen Europa ein neues Leben in Frieden zu finden, und die Wirtschaftsmigranten einen geordneten Zuzug erlaubt – der letztlich auch uns zugutekommt.
07.03.2015 |(Die Presse)
Journalistin Livia Klingl porträtiert in ihrem neuen Buch Flüchtlinge, die in Österreich Fuß gefasst haben. Wie Lejla Krammer, die mit 15 wegen des Bosnienkrieges nach Österreich kam. Ein Vorabdruck.
In der bosnischen Stadt Konjic am Fluss Neretva war die Lage im April 1992 noch friedlich, als in Sarajevo schon geschossen wurde. Doch was sich in der Hauptstadt anbahnte, wusste die Familie Cokoja vom Onkel, der über die bedrohlichen Vorkommnisse in Sarajevo regelmäßig am Telefon berichtete. Und so entschieden Lejlas Eltern, ihr einziges Kind für drei Wochen mit der Tante nach Slowenien zu schicken. „Ich habe meine Sommersachen eingepackt. Wir dachten, nach drei Wochen würde der Krieg vorbei sein“, erinnert sich die heute 38-jährige Lejla Krammer (gebürtige Cokoja). Doch die Familie irrte gewaltig. Und so zog die damals 15-jährige Lejla mit ihrer Verwandten für drei Monate nach Split an die kroatische Küste. Und weil der Krieg immer blutiger wurde, mit einem Touristenvisum weiter nach Villach. „Eine Zufallsentscheidung. Meine Tante hatte dort Bekannte. (...) Erst verlängerten wir unsere Touristenvisa bis Silvester, dann bis 1. Mai. Und dann wurde klar, dass wir bleiben und ich hier in die Schule gehen würde.“
Flüchtlingskind in Villach
Damals konnte Lejla kein Wort Deutsch. Man setzte sie in der Klasse neben eine Schulkollegin, die slowenisch sprach, „aber das nützte mir wenig, denn Slowenisch verstand ich nicht“. Inzwischen waren Tante und Nichte als Flüchtlinge anerkannt. „Das war noch vor der ersten großen Flüchtlingswelle und ging problemlos, denn alle waren damals sehr hilfsbereit.“ Im Villacher Gymnasium war Lejla das einzige Flüchtlingskind, ja überhaupt die einzige Ausländerin. Bis zum Herbst gab man ihr Zeit, alle Prüfungen nachzuholen. Lejla erfuhr viel Druck, aber auch enorme Unterstützung. „Die Mathematiklehrerin hat mir kostenlos Nachhilfe gegeben. Und obwohl mein Deutschaufsatz voller Fehler war, bekam ich eine Vier“, erinnert sie sich. „Mit meinem heutigen Bewusstseinsstand würde ich das nicht noch einmal schaffen wollen. Aber damals war es für mich eine Chance. Ich dachte mir, entweder ich mache das jetzt, oder ich habe nichts von der Zeit in Österreich.“ Vom Krieg in Bosnien sei sie völlig abgeschieden gewesen. (...) Nach dem ersten Sommer in der Fremde war Lejlas Deutsch gut. Aber nicht gut genug, um alles auch in seiner möglichen Zweitbedeutung zu verstehen. „Der Geografielehrer hat mich einmal in seiner Stunde gefragt: ,Kommst du mit?‘, und ich habe geantwortet: ,Wohin?‘“, kann sie heute lachen über anfängliche Verständnisschwierigkeiten in ihrem Dasein in Österreich. Anfangs lebten die beiden Frauen von den Ersparnissen der in Bosnien als Geschäftsfrau tätig gewesenen Tante, dann zog auch der Onkel zu ihnen, und die Tante begann, als Serviererin Geld zu verdienen. (...)
Hinaus in die Welt
1996 hat Lejla maturiert. Da herrschte in Bosnien wenigstens kein Schießkrieg mehr. Und ihre überaus optimistischen Eltern wollten, dass sie zurück ins in aller Hinsicht zerstörte Nachkriegsbosnien kommen solle. Doch sie wollte nicht. „Ich hatte zwar in Ex-Jugoslawien eine sehr glückliche Kindheit. Aber ich hatte immer den Wunsch gehabt, mehr zu sehen. Und so sagte ich meinen Eltern, lasst mich hinaus in die große weite Welt.“ Sie wollte in Österreich bleiben, obwohl mit dem Friedensabkommen von Dayton Ende 1995 der Flüchtlingsstatus für Bosnier in Österreich erlosch und die junge Frau bei den Behörden um einen Aufenthaltstitel vorstellig werden musste.
Da ihre Freunde aus Villach zum Studium nach Wien gingen, zog auch Lejla Krammer in die Bundeshauptstadt und machte die Aufnahmeprüfung an der medizinisch-technischen Akademie zur medizinisch-technischen Assistentin (MTA). Zwei Paare, Eltern von Schulkolleginnen, unterstützten sie die drei Jahre Ausbildungszeit hindurch mit 1000 Schilling monatlich und haben das Geld nie zurückgefordert. (...)
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits ein Studentenvisum und eigentlich eine Jobgarantie in der Tasche, denn die MTA wird von der Stadt Wien finanziert, und es werden nur so viele Personen ausgebildet, wie auch gebraucht werden. Ihre Diplomarbeit schrieb Lejla Krammer am Wiener AKH in Mikrobiologie.
„Die hatten mich auch sofort behalten, und ich hatte sofort arbeiten können. Aber dann stellte sich heraus, dass das mit einem Studentenvisum unmöglich ist. Und ein Arbeitsvisum bekam ich nicht, trotz der Bemühungen aller möglicher Leute.“ Damals habe sie gedacht, „meine Welt geht unter. Doch im Nachhinein betrachtet war es das Beste, was mir passieren konnte“. Denn mangels Arbeitsmöglichkeit begann sie, Medizin zu studieren und wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin am AKH, was auch ohne Arbeitsvisum erlaubt ist, und war damit geringfügig beschäftigt.
Endlich Staatsbürgerin
Nach acht Jahren in Österreich erhielt Lejla Krammer die österreichische Staatsbürgerschaft, weil sich Menschen für sie einsetzten, wie sie in ihrer neuen Heimat überhaupt unendlich viel Hilfsbereitschaft erfahren habe. Sie machte das Doktorat und danach die Facharztausbildung zur Anästhesistin. Heute meint die positiv denkende Ärztin, sie sei die ersten Jahre „wie im Schock gewesen. Ich habe einfach funktioniert. Noch einmal möchte ich so etwas nicht mehr machen. Aber ich hatte keine Wahl. Zurückgehen in den Krieg oder eben lernen“. Als Bosnierin fühle sie sich nicht, sondern als Kosmopolitin. „Ich bin in Ex-Jugoslawien aufgewachsen. Und ich komme mit den dortigen Veränderungen nicht zurecht.“
Wohl hat Lejla Krammer das von ihrem verstorbenen Vater geerbte Haus renoviert. Und sie war im Sommer mit ihrer kleinen Tochter dort, „damit sie weiß, wo ich herkomme. Ich spreche mit ihr serbokroatisch, denn ich würde es mir nie verzeihen, wenn meine Kinder nicht meine Muttersprache könnten. Auch wenn ich selber vollkommen entwurzelt bin. Denn das Land, in dem ich aufgewachsen bin, das gibt es nicht mehr“. Ihre Freunde seien in der ganzen weiten Welt verstreut, und man halte über Skype und E-Mail Kontakt.
Am ehesten fühlt sie sich in Wien zu Hause, auch wenn sie nun seit eineinhalb Jahren in Salzburg lebt. Denn ihr Mann, Wiener und ebenfalls Mediziner, ist Extremsportler und brauche die Berge. „Aber ich vermisse Wien. Ein Frühstück am Naschmarkt, entspannen im Museumsquartier. Ich glaube, ich vermisse sogar das Granteln der Wiener. Und ich vermisse die Multikulturalitat. In Wien ist doch jeder Zweite schon von irgendwo anders her.“