Erneuerin des Tango
Silvana Deluigi, 1960 in Buenos Aires geboren, ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Tango-Interpretinnen der jüngeren Generation. Sie versteht sich als Erneuerin des Tango und erweitert dessen Traditionen um improvisatorische Spielräume. Derzeit tritt Silvana Deluigi, die seit Mitte der achtziger Jahre in Paris lebt, gemeinsam mit dem Ensemble "Grupo 676" – einem Quintett in klassischer Tango-Instrumentierung – weltweit auf.
Silvana Deluigi wurde am 27. November 1960 in Buenos Aires geboren: Ihre Großeltern mütterlicherseits kamen aus Griechenland und der Türkei, väterlicherseits aus Frankreich und der Schweiz. Sie gehörten zu den vielen Europäern, die Ende des 19. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen nach Südamerika emigrierten.
Schon im Alter von vier Jahren sang Silvana Deluigi so überzeugend gut, dass ihre resolute Mutter, selbst Schauspielerin, sie auf ein Musik-, später auch auf ein Tanzkonservatorium schickte. Obwohl Silvana Deluigi noch als Jugendliche kein Interesse an einer professionelle Karriere als Musikerin hatte, und schon gar nicht im Bereich Tango, studierte sie klassischen Gesang am staatlichen Konservatorium in Buenos Aires. Bereits im Alter von 19 Jahren bekam sie mit der Rolle der Maria in dem Musical "West Side Story" am Presidente Alvear Teatro in Buenos Aires ihr erstes Bühnen-Engagement. Zwei Jahre später sang sie in der Rockoper "Romeo e Julietta" am Coliseo Teatro. 1984 ging sie dann nach Paris, um am dortigen Konservatorium Schauspiel zu studieren. Von Tango wollte die 24jährige damals allerdings noch immer nichts wissen: "Noch eine, die Tango singt, hätte man dann in Buenos Aires gesagt," begründete Deluigi ihre Abwehr gegen den größten Exportschlager ihrer Heimat (DIE ZEIT, 24. Januar 1992).
Vier Jahre später, 1988, wendete sich das Blatt. Silvana Deluigi trat im bekanntesten Tango-Club von Paris, dem "Troittoirs de Buenos Aires", auf und wurde von dem argentinischen Bandoneon-Star Juan-José Mosalini entdeckt. Seine Einladung, mit ihm gemeinsam auf Pariser Bühnen aufzutreten, nahm Silvana Deluigi begeistert an. Etwa zeitgleich wurde auch der Fernsehsender ARTE auf die junge Argentinierin aufmerksam und produzierte unter der Regie des Filmemachers Heinz-Peter Schwerfel einen Dokumetarfilm mit Spielhandlung, "Tanguera”. Die Welturaufführung des Films im Haus der Kulturen der Welt (1989) war gleichzeitig Silvana Deluigis Debüt auf einer deutschen Bühne. In Zusammenarbeit mit dem Label WERGO und dem Haus der Kulturen der Welt veröffentlichte Silvana Deluigi 1991 ihre erste, "Tanguera" betitelte, CD.
Für Silvana Deluigi steht im Mittelpunkt des Tango die Suche nach der wahren Identität jener Frau, die so oft besungen und so wenig geachtet wurde wie keine andere: der Tanguera. Sie war ein knappes Jahrhundert kein lebendes Wesen, sondern eine Sehnsucht, eine Erinnerung an bessere Zeiten, Produkt männlicher Projektionen. Lied für Lied rekapituliert die moderne "Tanguera" Silvana Deluigi die Geschichte des Tangos aus dem Blickwinkel der Frau. Mit dem Klischee saufender Machos und weinender Huren räumt sie auf, in ihrer musikalischen Reise vom Klassiker Discepolos über den Schlager Carlos Gardels bis zur feministisch angehauchten Ballade einer Eladia Blazquez lebt die andere, die unbekannte Seite des Geschlechterkampfes auf. Hand in Hand mit der inhaltlichen Entwicklung des Tangos geht die musikalische: Mit Hilfe zeitgenössischer Neuarrangements rekonstruiert "Tanguera" die Brücke von der klassischen Milonga über den zündenden Tanzrhythmus hin zum von Piazzola kreierten und von Musikern wie Juan-José Mosalini weiterentwickelten Tango Nuevo. Zahlreiche Kompositionen von "Tanguera" stammen aus der Feder des Gitarristen Tomás Gubitsch, dessen Karriere in Europa 1977 mit Astor Piazzola begann. Seit den neunziger Jahren begleiten auch die Pianisten Osvaldo Caló und der Bassist Jean-Paul Céléa, der zu den bekanntesten Jazz-Musikern Frankreichs gehört, den musikalischen Werdegang Silvana Deluigis.
Mit ihrer zweiten, "Tangos” betitelten, CD (1992) vervollkommnete sie in Zusammenarbeit mit Musikern wie dem Bandoneon-Virtuosen Luis Di Matto, dem Bassisten Jean-Paul Celea und dem Saxophonisten Ulrich Lask ihren experimentierfreudigen Umgang mit dem Tango.
Ihre erste Live-CD, "Loca", veröffentlichte Silvana Deluigi 1999. Der Titel, in der Übersetzung "Verrückt", spielt auf Astor Piazzolas berühmte "Balada por un loco" an und beweist gleichzeitig Mut zum Risiko: Statt eines Bandoneons spielt ein Akkordeon – unter Tangofreunden ein verpöntes Instrument – und Bertold Brechts "Surabaya Johnny" wird als Tango interpretiert.
Über ihr Verhältnis zum traditionellen Tango sagt sie: "In Buenos Aires aufgewachsen, wuchs ich mit der Tradition des klassischen Tangos auf, aber ich habe diese Tradition nie als ein Museumsstück betrachtet. Natürlich begann ich eine ganz persönliche Erforschung über die unbekannten Gesichter dieser wunderbaren Musik. Ich versuche Grenzen zu überschreiten, um heute neue und originelle Dialoge zwischen den Texten und einem Instrument zu finden." (zit. nach: http://www .users.imaginet.fr/~arene/deluigi1.htm)
Angesichts der derzeitigen Flut neu interpretierter Piazzola-Standards von Yo-Yo-Ma, Daniel Barenboim, Gideon Kremer, Julio Iglesias und vielen anderen wendet Silvana Deluigi sich bewusst einem weniger bekannten Repertoire zu. Seit "Loca" stehen selten gespielte Kompositionen von Astor Piazzola im Mittelpunkt ihrer Arbeit, darunter Vertonungen des Schriftstellers Jorge Luis Borges, die der argentinische Menuhin-Schüler Daniel Zisman, erster Konzertmeister des Berner Sinfonieorchesters, neu arrangierte. Borges düstere Milieustudien des Großstadtlebens sowie melancholische Kurzgeschichten von Liebe, Wahnsinn und Tod interpretierten Silvana Deluigi und Daniel Zisman neu. Ihre Stücke sind von einer unsentimentalen Einfachheit – bewusst brechen die Künstler mit de, Stil herkömmlicher Piazzola-Interpretationen. Zum ersten Mal trat Silvana mit diesen Stücken auch in der klassischen Tango-Besetzung des Quintetts auf: Bandoneon, Piano, Bass, elektrische Gitarre und Violine.
Ihre Begleitgruppe "676 Tango" ist nach dem legendären Tango-Club "Tucuman 676" benannt, in dem Astor Piazzola und sein Quintett Anfang der sechziger Jahre berühmt wurden. Zu Silvanas Ensemble gehören neben dem Begründer Daniel Zisman der Jazzgitarrist Francis Coletta aus Marseille sowie der in Buenos Aires ausgebildete Bandoneonist Michael Zisman, gerade achtzehn Jahre jung, der nach Gastspielen in Israel, Nordamerika und der Schweiz mit Silvana Deluigi in diesem Jahr seine erste große Europa-Tournee absolviert.
Autor: Verena Mörath
Biographie:
Silvana Deluigi, geboren in am 27. November 1960 in Buenos Aires, lernte zunächst Schauspiel am Conservatorio Nacional de Arte Dramatico (Buenos Aires), anschließend Gesang am französischen Conservatoire National Supérieur d´Art Dramatique (Paris). Ergänzend absolvierte sie am Conservatorio Nacional de Musica (Buenos Aires)eine klassische Gesangsausbildung, hielt sich zu Studienaufenthalten am Teatro de l´Opera Massimo Bellini (Catania/Sizilien) auf und nahm Privatunterricht bei Jacques und Françoise Rondeleux (Paris).
Publikationen:
Tanguera - Woman in Tango, 1991
Tangos, 1995 (Duos mit Luis di Matteo, Jean-Paul Celea, Osvaldo Caló, Ulrich Lask)
Loca, 1999 (Erste Live-CD mit Osvaldo Caló, Renaud Garcia Fons, Jean Louis Matinier u.a.)
Ausserdem Mitwirkung bei:
The Sounds of 10 Years House of the Cultures of the World, 1999
Hauptrollen in Musicals
1979 West Side Story - Teatro Presidente Alvear, Buenos Aires
1981 Romeo y Julieta - Teatro Coliseo, Buenos Aires
1985 Libertango - Théatre de Plaisance, Paris
Solo Shows (Auswahl)
1988 Blue Tango - Trottoirs de Buenos Aires, Paris
1989 Tanguera - Trottoirs de Buenos Aires, Paris und Haus der Kulturen der Welt, Berlin
1992 Tanguera – Deutschlandtournee (u. a. Haus der Kulturen der Welt, Berlin)
1993 Tournee mit Juan-José Mosalini, Band und Tänzerin
1994 Tournee mit Juan-José Mosalini und Band
1994 Tango mio – Solo-Tournee mit Bandoneonist Luis di Matteo
1995 Nachtmusik im WDR – Live-Konzert im großen Sendesal des WDR
sowie zahlreiche Einzelkonzerte und Auftritte im Rahmen von Festivals in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Großbritannien.
Hauptrollen in Filmen
1989 Tanguera - Musikfilm mit Spielhandlung (WDR/ARTE), Regie Heinz-Peter Schwerfel
1990 Artcore - Spielfilm (WDR)
sowie mehrere französische Werbespots
Video
"Tanguera" von Heinz-Peter Schwerfel
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