Edwyn Collins & Band Er lehrte Morrissey das Singen, schrieb in den 80ern mit Orange Juice Pop-Geschichte und solo in den 90ern einen Welthit ("A Girl Like You"). Sein eigenes Schicksal verleiht ihm musikalische Leichtigkeit und lebensphilosophische Wucht - die Grundessenzen eines perfekten Popsongs der Marke Edwyn Collins. Das gilt für sein neues Album "Understated" ebenso wie für sein Frühwerk.
Welche Langzeitwirkung der schüchterne Schotte schon mit den allerersten Orange-Juice-Singles wie "Falling And Laughing" entfaltete, begreift man wohl erst heute so richtig. Weltbekannte Bands wie Primal Scream, Belle & Sebastian oder Franz Ferdinand, so verschiedenartig sie auch sein mögen, berufen sich alle auf deren schrillen, technisch oft holprigen dafür umso leidenschaftlicheren und gewitzteren Songs aus der Post-Punk-Ära. Und das obwohl die Band Zeit ihres Wirkens gerade einmal 3 1/2 reguläre Alben veröffentlichte und nur mit "Rip It Up (And Start Again)" einen UK-Top-Ten-Hit landen konnte.
Als Edwyn Collins dann im Zuge seiner darauffolgenden, kommerziell eher dahinplätschernden Solo-Karriere vollkommen unerwartet mit "A Girl Like You" DER europäische Sommerhit des Jahres 1995 gelang, war das für ihn wohl gleichzeitig späte Genugtuung und Ironie der Geschichte. In dieser Tonart hätte es dann ruhig ewig weitergehen können, doch zwei Schlaganfälle änderten 2005 alles. Vorerst. Denn es wäre nicht Edwyn Collins, wenn er sich nicht mit Hilfe seiner Familie und Freunde Schritt für Schritt ins Leben - und zur Musik - zurückkämpfte.
"Understated" ist nun nach "Losing Sleep", das Collins auch in Linz präsentierte, das zweite Album danach. Und es ist, wie der Rolling Stone schreibt, "fast vollständig ein Album des Pop-Alchimisten Edwyn Collins: Schon vom ersten bescheidenen Tröten von 'Dilemna' (Sean Read an allen Blasinstrumenten) will er offenbar die Grandezza und die Leichtigkeit seiner besten Aufnahmen zurückholen - und kann es auch."Edwyn Collins zählt zu den großen Unbekannten des Popmusik-Geschäfts. Allerdings vorwiegend außerhalb seiner Heimat. In Schottland nämlich ist er als führende Figur der Alternative-Szene der späten 70er Jahre bekannt. Mit 17 Jahren gründet er die Nu-Sonics, ein paar Jahre später kommt der Erfolg mit Orange Juice. File under: Glasgow School.
Diese spezielle, britische Indie-Melancholie, die viele Achtziger-Bands auszeichnet, sollte Collins auch nach der Trennung der Band 1985 nicht abhanden kommen. Legendär ist seine Abneigung gegenüber kommerziellen Strömungen und sein rigider Perfektionismus, die ihm zu dieser Zeit wenig behilflich bei seinen Anstrengungen sind, Label-Pforten zu öffnen.
Ein anderer Glasgower Querkopf, Creation Records-Boss Alan McGee, wagt 1986 schließlich den Schritt, nachdem er Collins vor ausverkauftem Haus in London ansichtig wird. Edwyns folgende Singles "Don't Shilly Shally" und "My Beloved Girl" stehen einer Chartsplatzierung jedoch diametral gegenüber, so dass es schon ein Jahr später und kurz vor dem Ende von Creation zum Zerwürfnis zwischen dem Sänger und McGee kommt.
Erst das in Deutschland mit Aztec Camera-Sänger Roddy Frame aufgenommene "Hope And Despair" bringt seinen Namen wieder ins Gespräch und schafft es in die Independent Charts. Doch Collins versäumt es, mit dem Nachfolger "Hellbent On Compromise" nachzulegen.
1992 trifft er Produzent Sebastian Lewsley, mit dem er zwei Jahre später sein 94er Album "Gorgeous George" aufnimmt, darunter der internationale Hit "A Girl Like You". Die Single wird nach dem 1983er Song "Rip It Up" von Orange Juice zu Collins' größtem Erfolg.
2005 erfährt die Welt die tragische Nachricht, dass der Songwriter nach zwei Schlaganfällen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Dort bleibt Collins sechs Monate. Der Teil seines Gehirns, der Sprache und Kommunikation steuert, wurde schwer getroffen. Es sieht zunächst alles andere als danach aus, dass Collins je wieder seinen Beruf ausüben könne.
Anfangs kann er weder sprechen, noch laufen, lesen oder schreiben. Doch er steht zwei Jahre harter Rehabilitations-Therapie durch und wird reich belohnt. 2007 erscheint zunächst das bereits vor seinem Unfall aufgenommene Album "Home Again". Für "Losing Sleep" komponiert er drei Jahre später die ersten neuen Songs. Die Freude über seine Genesung teilt er mit jungen Bewunderern seiner Kunst, u.a. Franz Ferdinand, The Drums und The Cribs. Nach fünf traumatischen Jahren ist Edwyn Collins wieder mitten im Leben angekommen.
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DIE ZEIT:
Die Ballade von Edwyn und Grace
Edwyn Collins war ein bekannter Gitarrist, als ihn zwei Schlaganfälle ereilten. Nun ist er ins Leben zurückgekehrt.
VON DIRK PEITZ
"Komm, lass uns Gitarre spielen", sagt Edwyn zu Grace, also steht sie auf und holt eine der bestimmt zwanzig, dreißig Gitarren, die herumstehen in Edwyns altem Musikstudio in West Hampstead, einem der netteren Londoner Stadtteile; draußen ist ein schöner Spätsommertag Anfang September. Grace setzt sich rechts neben Edwyn auf die Couch, ganz nah, sie legt sich den Gitarrenkorpus auf den linken Oberschenkel, Edwyn zählt ein, und dann spielt Grace die rechte Schlaghand und Edwyn die linke Greifhand. Ein paar Akkorde aus A Girl Like You, dem Lied aus dem Jahr 1994, von dessen Tantiemen sie ihr kleines Haus ein paar Kilometer weiter in Kilburn bezahlt haben und er einen Großteil der riesigen Sammlung alter Instrumente und Aufnahmegeräte gekauft hat, die hier im Studio, vier schmucklosen Hinterhofräumen, in den letzten Jahren meist ungenutzt herumstanden. A Girl Like You war rund um die Welt in den Top Ten, es sollte ursprünglich eine musikalische Hommage an Iggy Pop sein, aber es ist längst allein ihr Lied, das von Edwyns Frau Grace, einer kleinen Frau mit großer, rauer Lache und schottischem Singsang-Akzent: "I never met a girl like you before".
Edwyn Collins wird nie wieder allein Gitarre spielen. Außer es geschieht noch ein Wunder. Die Frage ist nur, ob er noch ein Wunder frei hat; ob Wille, Übung und Therapien allein einen gelähmten Arm und eine starr zur Faust geballte Hand wieder in Bewegung setzen können. Edwyn Collins ist fünfzig Jahre alt, mehr als dreißig davon hat er Musik gemacht, vier Alben mit seiner ersten Band Orange Juice, sechs Alben als Solomusiker, eine souveräne, aber zumeist unauffällige Pop-Karriere. Dann haben ihn zwei Schlaganfälle umgeworfen im Jahr 2005. Nun erscheint das siebte Soloalbum, es heißt Losing Sleep, die erste Platte mit neuen Liedern danach.
Edwyn könnte tot sein, es war knapp. Er könnte stumm und starr in einem Pflegeheim vor sich hindämmern, dieses Ende war nicht unwahrscheinlich. Er könnte auch kerngesund sein. Wenn er nur zum Arzt gegangen wäre vor jenem verhängnisvollen Februartag vor fünf Jahren. Über Monate hinweg hatte er heimlich Schmerztabletten geschluckt gegen die unerträglichen Kopfschmerzen, nicht mal Grace hatte er davon erzählt, gerade ihr nicht; der große, starke, sarkastische Edwyn, ein dunkler, heiterer Romantiker in seinen Liedtexten, ein blitzgescheiter Zyniker im Leben, hatte eine geradezu kindlich naive Angst vor der Diagnose Hirntumor. Dabei hatte er bloß hohen Blutdruck. Grauenhaft hoch zwar, aber sonst nichts.
Der 20. Februar 2005 war ein Sonntag, es war am frühen Abend, Grace war nur kurz fort gewesen, zwanzig Minuten vielleicht, Edwyn wollte in der Zwischenzeit das Stew aufkochen. Der Geruch von verbrannten Kartoffeln im Hausflur hatte Grace beim Nachhausekommen gleich seltsam erschreckt, sie hatte laut Edwyns Namen gerufen und ihn dann im ersten Stock im Wohnzimmer gefunden, der Fernseher lief, Edwyn lag auf dem Fußboden, reglos, kaum bei Bewusstsein. Als er ein paar Tage später aufwachte, nach dem zweiten Schlaganfall, der im Krankenhaus passierte, war nicht nur seine rechte Körperhälfte gelähmt. Er konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben. Aphasie heißt die Krankheit, eine Folge der Hirnblutungen. Wäre Edwyns Gehirn ein Computer, dann wäre es, als wäre das Betriebssystem gelöscht worden.
"Ich kann mich vielleicht an die Hälfte meines Lebens vor meinen Schlaganfällen erinnern. An kleine Details vor allem. Aber ich bin mir nie sicher, ob sie stimmen. Meine Erinnerungen sind wie hinter einem Schleier verborgen. Sie liegen im Nebel, im Dunst. Sich zu erinnern ist eine seltsame, quälende Erfahrung für mich. Ich weiß nicht mehr wirklich, wie es war, Edwyn Collins zu sein."
Es ist die mit Abstand längste und flüssigste Antwort, die Edwyn in zwei Stunden Gespräch geben wird an diesem Nachmittag in seinem Studio. Seine Sätze sind kurz, einfach, nie verschachtelt, oft enden sie mittendrin, auch mitten in einem Wort, das einfach nicht ganz herauswill. Dann vervollständigt Grace das Wort und den Satz, sie versucht, Edwyns Gedanken zu lesen. Zwanzig Jahre waren sie zusammen, als die Schlaganfälle kamen, da war sie bereits seine Managerin, immer schon hatte sich fast alles um ihn gedreht und seine Musik. Heute ist Grace Maxwell mindestens so sehr Edwyn Collins wie er selbst, und was von ihr übrig geblieben ist, weiß auch sie vermutlich nicht mehr. Die zwei sind eins.
Und deshalb lässt sich auch gar nicht mehr sagen, was wichtiger war, ihr Antrieb oder seine Sturheit, damit Edwyn vor etwas mehr als drei Jahren zum ersten Mal wieder sein Studio betreten konnte. Seine alte Backing-Band hatte sich versammelt, eine BBC-Kameracrew war auch dabei, sie drehten einen Dokumentarfilm über seine Genesung, ein großer Tag für alle. Edwyn humpelte in den Raum, setzte sich auf einen Gitarrenverstärker, die Band spielte los, und Edwyn begann zu singen. Er traf kaum einen Ton. Nichts mehr war zu hören von seinem einst dunklen Bariton, da war bloß noch eine quietschige, schiefe Kopfstimme. Man sieht auf den BBC-Bildern die Freude und Rührung in den Gesichtern von Edwyns Musikern darüber, dass er zurück war; ihr Entsetzen über seine verlorene Stimme sieht man nicht, man kann es nur erahnen.
Neuroplastizität nennt man die Fähigkeit der Nervenzellen und Synapsen im Hirn, sich neu zu verschalten, neue Netze zu bilden, und in Edwyns Kopf scheinen eben neuroplastische Wunder zu geschehen. Sonst hätte er nicht im Oktober 2007, nur Monate nach der verheerenden ersten Probe, wieder in London auf eine Bühne humpeln und singen und die Töne ordentlich treffen können; sonst hätte er nicht ein Jahr später damit anfangen können, neue Songs zu schreiben und bald aufzunehmen. Mit seiner Band, seinem Sohn William und vielen Gastmusikern, Alex Kapranos und Nick McCarthy von Franz Ferdinand, Johnny Marr, dem einstigen Smiths-Gitarristen, Musikern der jungen Bands The Drums und The Magic Numbers. Alle wollten dabei sein, wenn Edwyn Collins zurückkommt.
Es gibt für diese Art von Rückkehr eigentlich keinen Präzedenzfall in der populären Musik. Bands wiedervereinigen sich, verschwundene Musiker feiern Comebacks, das ist normal. Es gibt körperbehinderte Superstars wie den blinden Stevie Wonder; der geistige und körperliche Verfall wurde bei manchen der Größten ein letzter Teil ihres Werkes, Elvis Presley, Frank Sinatra, Johnny Cash; Musiker sind zu allen Zeiten jung gestorben, absichtlich oder nicht. Ihr aller Mythos bleibt wohlerhalten, wird wohlgepflegt. Die biografischen Erzählungen der Popstars sind voll von Abstürzen, doch wenn eine Berühmtheit dann mal auf der Bühne genesen will wie zuletzt Whitney Houston, wird sie gnadenlos ausgebuht. So als nähme ihr das Publikum übel, dass sie ihre Virtuosität verschleudert hat ans wilde Leben, das die Popkultur doch sonst so frenetisch feiert.
Edwyn Collins hingegen ist schuldlos, und dass er nie wirklich berühmt wurde, trotz des einen Welthits, hilft womöglich dabei, ihn unverstellter von popmythologischem Tand zu betrachten. Er singt auf seinem neuen Album Losing Sleep so, wie er spricht, in kurzen Sätzen, in einfachen Worten; man hört Edwyn dabei zu, wie er das, was man leichthin Identität nennt, mühsam wiederzusammenfügt wie Teile eines Puzzles, das am Ende doch kein geschlossenes Bild mehr ergeben wird. Er singt von der eigenen Orientierungslosigkeit, der Langeweile, der Verwirrung. Von der Verzweiflung darüber, seine Rolle nicht zu finden in einer Welt, der er nicht mehr hinterherkommt. Von der Frau, die er mehr braucht als je zuvor und die er doch nicht brauchen will, um nicht ewig Opfer seiner Krankheit zu bleiben. Davon, wie er das verliert, was er Würde nennt. Davon, wie er es wieder schaffen will zurück ins Leben. In die Musik.
Auch die ist jetzt ganz einfach bei Edwyn Collins, Northern Soul und Indie-Pop, keine vertrackten Arrangements mehr, alles geradeaus, er hat keine Zeit und keine Chance mehr, kompliziert zu sein, und simple Popsongs sind vielleicht das ideale Medium für einen Schlaganfallpatienten wie Edwyn, um sich auszudrücken.
Früher liebte er langsame Lieder, heute liebt er schnelle, und doch endet sein Album mit einem langsamen Searching for the Truth. Dessen erste Strophe hat Edwyn sich ausgedacht, als er noch im Krankenhaus lag, im Herbst 2005, reden konnte er noch kaum, aber singen schon, wenn auch kaum verständlich: "I’m searching for the truth, some sweet day we’ll get there in the end." Er hat die Worte wieder und wieder vor sich hingesungen damals, so steht es im Prolog des Buches, das Grace letztes Jahr über Edwyns Schlaganfälle und die Zeit danach geschrieben hat. Falling & Laughing heißt es, so wie die erste Single von Edwyns erster Band Orange Juice aus dem Jahr 1980. Am Ende schreibt Grace: "Edwyn und ich sind keine Vorbilder, wir liefern keine Botschaft, keine Blaupause, kein ´Wenn wir es schaffen, dann könnt ihr es auch`."
Zehn Tage nach dem Treffen in seinem Studio betritt Edwyn die Hauptbühne des Berlin Festival am alten Flughafen Tempelhof, sein erstes Konzert in Deutschland seit zwölf Jahren, früher hasste er Auftritte, heute liebt er sie. Viele im Publikum werden nicht wissen, was in den Jahren seit A Girl Like You alles passiert ist im Leben von Edwyn Collins, aber sie sehen, dass etwas passiert sein muss, als er quälend langsam am Gehstock zu der einfachen Transportkiste humpelt, die man ihm dort hingestellt hat zum Draufsitzen. Die Band stimmt gleich die ersten Takte von Losing Sleep an, und hinter der Bühne dreht sich Grace um und geht zurück ins Flughafengebäude, wo die Künstlergarderoben sind. Es gibt nur wenige Orte, an die Grace Edwyn heutzutage nicht begleitet, die Bühne ist einer, dort weiß sie ihn sicher, dort kann sie ihn allein lassen.
Es ist ein ganz und gar unsentimentales Konzert, das Edwyn mit seiner Band spielt, sie jagen von einer schnellen Nummer zur nächsten, und doch ist seine Präsenz allein schon berührend. Ein großer, schiefer Mann, der an einer Kiste lehnt, nur das linke Bein und der linke Arm bewegen sich im Takt, der Rest des Körpers bleibt starr. Sein bloßes Dasein erzählt schon mehr davon als jedes Lied, was im Leben alles möglich ist, im Guten wie im Schlechten, im Schönen wie im Traurigen.
Edwyns Bariton ist an diesem Nachmittag klar und tief, seine Zwischenansagen hingegen sind kaum zu verstehen, Edwyn kann immer noch besser singen als sprechen und besser sprechen als laufen. Nur ein langsames Lied kommt im Set vor, mittendrin, Home Again, geschrieben kurz vor den Schlaganfällen, bevor sich sein Leben und das von Grace für immer änderte. Man könnte sich kein passenderes Lied vorstellen für diesen Moment: Edwyn Collins ist wieder zu Hause, auf der Bühne, in der Musik.