Tast-Sinn
In letzter Zeit war gar oft und inflationär von sexueller Belästigung die Rede. Also tat es gut, dass endlich einmal jemand die Grundsatzfrage stellte, nämlich: „Was sind sexuelle Übergriffe?“ Dieser Jemand ist wohl einer der Berufensten in dieser Causa, der ehemalige Leiter der Festspiele zu Erl. Er klärte uns auf, dass sexuelle Übergriffet lediglich eine Erfindung erfolgloser Künstlerinnen sind. Zudem outete er sich als Frauenkenner. „Es gibt viele Gründe, warum eine Frau etwas erfindet, was nicht stimmt." Dasselbe gilt eventuell auch für Männer, vielleicht auch besonders in diesem Fall. Außerdem sei die Welt voller Missverständnisse. Denn schon allein „wenn Sie eine Sängerin bitten, einen Kaffee zu trinken“, sei gefährlich. Was ist damit gemeint? Regen sich diese gekränkten Tussis jetzt auch schon darüber auf, dass sie gebeten wurden Kaffee zu trinken? Oder meinte er Kaffee mit ihm? Diese sprachliche Verworrenheit hilft vermutlich, darüber hinweg zu sehen, dass inzwischen 15 Klagen eingegangen sind. Also fünfzehn Einzelfälle quasi. Schließlich entschuldigte er sich doch tausend Mal für den Fall, dass er doch sexuell übergriffig wurde. Oder für den ausfallenden Ton bei den Proben. Es ist immer wieder schön, wie die Kunstszene ihrem selbst inszenierten Image entspricht. Dieses Bild eines freien bunten Reiches ohne Einschüchterung, voll geistiger Weite, Menschlichkeit und blühender Phantasie. Zumindest Letzteres hat sich hier bewahrheitet und gerade diese übersteigerte Vorstellungsgabe ermöglicht vieles. Etwa die Selbstüberschätzung andere einfach anzutasten (zu betasten) und sich selbst für unantastbar zu halten.