"Es hat schon einer gewissen Gewöhnungsphase bedurft. Je öfter wir das Programm gespielt haben, desto mehr hat es auch die Blasmusiker angesprochen. Während ich bei der ersten Probe auf sie wie jemand von einem anderen Stern gewirkt haben muss". Wolfgang Puschnigs Erinnerung an die Begegnung von ihm, dem Jazzer, und den Volksmusikanten der Amstettner Blaskapelle besitzt zweifellos Indizcharakter: Ja, es waren zwei musikalische Welten, die da im Jahr 1991 unter dem Projekttitel "Alpine Aspects" aufeinander prallten, zwei gerade in Österreich hermetischer als anderswo separierte Genres, deren Distanz nicht zuletzt historisch-ideologischer Natur war und ist. Trotzdem hierzulande seit Ende der 80er Jahre im Sog der sogenannten "Neuen Volxmusik" manche Barriere zu Pop und Jazz durchbrochen wurde, obwohl insbesondere Wolfgang Puschnig sich mit seinem Solo-Debüt "Pieces of a Dream" von 1988 nonchalant als in der Tradition des Kärntnerlieds verwurzelter Saxophonist geoutet hatte, stand und steht "Alpine Aspects" bis heute wie ein massiger, erratischer Block in Österreichs Musiklandschaft. Ein brillanter Meilenstein nicht nur im Schaffen Puschnigs, sondern des europäischen Jazz insgesamt, so sei in aller Subjektivität festgestellt, ein Projekt, das hierzulande freilich mancherorts Ratlosigkeit hinterließ, während anderswo - von Tango Nuevo bis New Musette, wie bedingt "Alpine Aspects" damit auch vergleichbar scheinen mag - ähnliche Ansätze zu Erneuerung und Brückenschlag auf ungleich größere Resonanz stießen.
"Ich habe diese Idee schon jahrelang mit mir herumgetragen", so Puschnig, "Mir hat dieser Bläser-Klang seit meiner Kindheit gefallen. Weniger die zackigen Märsche als vor allem die Begräbnis- und Prozessionsmusik, Trauermärsche und Hymnen." Zwei Jahre nach dem Ausstieg aus dem "Vienna Art Orchestra" und dem Beginn der erfolgreichen Solo-Karriere, während Puschnig bereits mit den südkoreanischen Perkussionisten von "Samul Nori" und dem fulminanten Duo mit Jamaaladeen Tacuma Triumphe feierte, thematisierte der damals 35 Jahre junge Musikus erneut seine musikalischen Wurzeln. In Robert Pussecker, in den 70ern Studienkollege in der Jazzsaxophonklasse des Konservatoriums der Stadt Wien, seit 1979 Kapellmeister im niederösterreichischen Städtchen Amstetten, fand er dafür einen kongenialen Partner: "Wir haben aus logistischen Gründen die kleinstmögliche Besetzung gewählt, in der man den Klang einer Blasmusikkapelle produzieren kann. Ich wollte das traditionelle Idiom erhalten, aber die Musik gleichzeitig auch vom Ablauf her möglichst offen gestalten. Pussecker konnte als Dirigent manche Teile zu beliebigen Zeitpunkten bringen. Für mich als Solist war es ideal, von diesem Klang - und den oft überraschenden Einsätzen der Kapelle - getragen zu werden. Kein Konzert glich dem anderen."
Bei allem ehrlichen Respekt erfolgte Puschnigs Annäherung keineswegs schüchtern: Das "Alpine Aspects"-Programm zeugt in seiner prallen, mitreißenden Vitalität von lustvoll ausgelebter Musizierfreude. Einerseits in den wuchtigen, satten Bläsersätzen, die, harmonisch dissonant verdichtet und zu immenser Farbenpracht aufblühend, auch rhythmisch auf vertrackte Geleise gelenkt werden, während sie melodisch gewohnt dreiklangsfreudige Wege gehen. Und auch die Jazzer kommen - andererseits - zu ihrem Recht, erden in Jamaaladeen Tacumas unnachahmlich fetten Bass-Linien und Thomas Alkiers kraftvollen Grooves das brodelnde, funkensprühende musikalische Gemenge in knackiger, tiefschwarzer Funkyness, während Linda Sharrock ihre expressive, dunkle Alt-Stimme frei durch den Raum fliegen lässt. Lyrische Stimmungsbilder alpiner Landschaften wie "We Reach For the Sky", mit immer wieder schroff aufsteigenden Gebirgsformationen als assoziativen Schlaglichtern, alternieren mit Stücken, in denen marschrhythmische Derivate als Vehikel für immens füllige, "harmolodisch" inspirierte, kontrapunktische Schichtungen dienen. Ja, es waren zwei Welten, die hier aufeinander prallten. Und einander in genialer Weise durchdrangen und befruchteten.
So euphorisch das Ausland über "Alpine Aspects" jubelte, so geteilt blieben die Reaktionen innerhalb Österreichs. Bezeichnenderweise passierte es im eigenen Land, genauer: beim Salzburger "Heimischquer"-Festival im November 1992, dass Puschnigs Mannen und Frauen vom Publikum - in Erwartung der volkstümlich-kommerziellen "Zillertaler Schürzenjäger" - von der Bühne gepfiffen wurden. Etwa eineinhalb Dutzend Auftritte erlebte das Programm zwischen Mai 1991 (Moers Festival, BRD) und November 1997 (Queen Elizabeth Hall, London). Das war's. Ein von Puschnig geplantes Ornette-Coleman-Album in derselben Besetzung wurde nicht realisiert. Das Projekt ist bis heute ohne Nachfolge geblieben. Vielleicht, weil die Zeit für ein derart kühnes Unternehmen doch noch nicht gänzlich reif war. Vielleicht freilich auch, weil Wolfgang Puschnig mit dieser Arbeit nicht nur ein erstes Experiment, sondern gleich ein ultimatives, in jedem Ton bis heute gültiges, von elektrisierender Energie erfülltes Meisterwerk vorgelegt hat. "Alpine Aspects", das man vielleicht schon in zehn Jahren als eine der bedeutendsten österreichischen (Jazz-)Produktionen des vergangenen Jahrhunderts erkennen wird, ist nicht zufällig auch eine von Puschnigs persönlichsten Arbeiten. Gewidmet dem in eben jenem Jahr 1991 verstorbenen Großvater, dem Mann, dessen Lieder im Kärntner Saxophonisten jene Affinität zu kantabler Melancholie reifen ließen, die ihn heute als unverwechselbaren Solisten von europäischem Format ausweist. "Wenn ich ihn gefragt habe, warum er immer diese traurigen Lieder singt, hat er geantwortet: ‚Die lustigen merke ich mir nicht.'"
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Wolfgang Puschnig: Kärntner Kosmopolit
Weltoffenheit zu zeigen, ohne zu vergessen, woher man kommt. Kosmopolitentum mit starken regionalen Wurzeln: Person und Musiker Wolfgang Puschnig verkörpern diese essenzielle, oft als blosses Schlagwort strapazierte Bipolarität in tatsächlich exemplarischer Art und Weise. Was ihn seit Anfang der 80er Jahre nicht nur zu einem Aushängeschild, sondern zu einem Modellfall des europäischen Jazz hat avancieren lassen. Österreichs südlichstes Bundesland Kärnten war für Puschnig der Sozialisations-Urgrund, das Substrat seines musikantischen Denkens und Empfindens, situiert im Schnittpunkt von germanischer, slawischer und romanischer Kultur und Sprache. Hier, in Klagenfurt (slowenisch Celovec) wurde er am 21. Mai 1956 in diese Welt gesetzt, hier verlebte er auch seine musikalisch von Volksliedern ( Gesungen wurde bei uns immer! ), Jazz und jeder Menge anderer Musik geprägten Jugendjahre. Als frisch gebackener Maturant, im Herbst 1974, gewaschen nur mit den Wässerchen der Erfahrung in der Klagenfurter Underground-Band Sokrates Sixtinic Bongoloids und in einer Amateur-Theater-Gruppe, kehrte er dem heimatlichen Karawankenland den Rücken, um in der fernen Bundeshauptstadt sein Glück zu machen. Puschnig inskribierte Musikwissenschaft und Englisch an der Universität Wien, das klassische Flöten-Studium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst brach er nach Problemen mit dem Ansatz ab. Stattdessen tat er sich als Saxophonist in der hiesigen Jazz-Szene um, besuchte die Jazz-Abteilung des Konservatoriums der Stadt Wien und gründete am 19. Mai 1977, im Zuge eines Konzerts, das er ursprünglich mit Pianist Mathias Rüegg im Duo bestreiten sollte, unversehens ein Ensemble mit, das unter dem Namen Vienna Art Orchestra (VAO) zu Ruhm und Ehre kommen sollte. Die Aufnahme einer ersten Single namens Jessas na! mit dem Arbeiterdichter Otto Kobalek und ein Konzert für vier Bäume, Feuerwerkskörper, Schweizer Soldatenbuch, halbmilitante Kinder und Orchester waren exemplarische Ereignisse der anarchistischen, fluxusartigen Frühphase jener Bigband, mit der Aufnahme der LP Tango From Obango 1979 und den ersten wichtigen Auslandsfestivalauftritten 1980/81 kam der Durchbruch. In den folgenden Jahren stieg Wolfgang Puschnig in legendären, von Mathias Rüegg komponierten bzw. arrangierten Programmen wie Concerto Piccolo (1980), From No Time To Rag Time (1982), The Minimalism of Erik Satie (1984) und Lonely Nightride of a Saxophone Player (1985) zum führenden Solisten des Orchesters auf; Gastspiele in Thailand und den USA Mitte der 80er Jahre sowie erste Plätze des VAO im Ranking der Down Beat -Polls in der TDWR-Kategorie ('84 und '85) festigen seinen Ruf als führende europäische Bigband wie auch den seiner Mitglieder.
Von Anbeginn an umkreisten mehrere Bands within the band gleich Trabanten die Orchester-Mutter, um irgendwann auf eigene Flugbahnen umzuschwenken. Puschnig trat u. a. im Quintett Part of Art (mit Herbert Joos, Uli Scherer, Jürgen Wuchner und Wolfgang Reisinger), das 1980-83 zwei Platten einspielte, und in den Projekten mit Laut-Poet Ernst Jandl, deren erstes sich 1984 in der LP Bist eulen? manifestierte, in Erscheinung. Die Achse Puschnig-Reisinger erwies sich Mitte der 80er Jahre auch in den gefeierten Ensembles Pat Brothers (mit Linda Sharrock und Wolfgang Mitterer) und Air Mail (mit Harry Pepl und Mike Richmond) als beständig. Hatte Puschnig schon in den 70ern zu Alter ego Uli Scherer, dem langjährigen VAO-Pianisten, eine musikalische Duo-Beziehung gepflogen, so trat diese Besetzungsvorliebe nun zunehmend in den Vordergrund: Ab 1981 lud Hans Koller, die damals 58-jährige Vaterfigur des österreichischen und europäischen Jazz, Puschnig oft und gern zum freien Saxophon-Dialog, die Duo-Kooperation mit Wolfgang Mitterer resultierte 1986 in der experimentellen, elektroakustischen LP Obsooderso . Wie sehr Puschnig an dieser intimsten, konzentriertesten aller Kommunikationsformen gelegen war, zeigte sich auch auf Pieces of a Dream , seinem 1988 veröffentlichten Solo-Debüt: Duette mit Carla Bley, mit der er seit 1985 zusammenarbeitete, Ex-Ornette-Coleman-Bassist Jamaaladeen Tacuma, Hans Koller, Linda Sharrock, Hiram Bullock, Harry Pepl u. a. wurden eingerahmt durch eine Chorbearbeitung des Kärntner Volksliedes Is scho still uman See . Ein für Puschnig programmatisches Statement: Erstmals traf hier die große, internationale Welt des Jazz auf die kleine seiner Heimat. Und erstmals wurde klar, dass die expressive Beseeltheit, die singende , bluesige Phrasierung, die schon in den 80er Jahren zum unverkennbaren Markenzeichen von Puschnigs Altsaxophonspiel avanciert war, seine Wurzeln im Grunde in der Schwermut der slawisch beeinflussten Volksmusik Kärntens hatte.
Der große Einschnitt folgte auf dem Fuß: 1989 verließ Wolfgang Puschnig nach 12 Jahren den schützenden Hafen des Vienna Art Orchestra , das Mathias Rüegg daraufhin auch in anderen Positionen umbesetzte und in dessen Geschichte so das Chapter II aufgeschlagen wurde. Für Puschnig war es das Kapitel einer erfolgreichen Solo-Karriere, das nun begann: Aus der Vielzahl an Kooperationen und Projekten, in die er seither (zumeist Seite an Seite mit Linda Sharrock) involviert war, seien nur die wesentlichsten angeführt: die Verbindung mit dem koreanischen Percussion-Quartett Samul Nori (seit 1987), die elektrisierende Gemini -Duo-Funk-Zwillingsgemeinschaft mit Jamaaladeen Tacuma und das gleichermaßen bizarre wie brillante Alpine Aspects -Unternehmen, in dem Puschnig 1991 funkig-groovige Jazz-Energien mit der blasmusikantischen, harmonisch dissonant verdichteten Zünftigkeit der Amstettner Trachtenmusikkapelle konfrontierte und damit seinen vielleicht genialsten Projekt-Coup landete.
Kärnten-Afroamerika-Korea-und zurück. Auch und gerade als Solist in Carla Bleys Very Big Band oder in Konstellationen wie Mixed Metaphors , die die Konkrete Poesie Ernst Jandls mit tiefschwarzer Rap-Lyrik, den zeitgenössischen Grooves und Rhymes Afroamerikas, konfrontierte, auch und gerade an der Seite des österreichischen Sangeshelden Willi Resetarits alias Kurt Ostbahn, mit dem er gemeinsam Standards zelebriert, ist Puschnig stets Puschnig geblieben. Die elegische Intonation, die melodiöse Kantabilität der Linien, die seinen Personalstil ausmachen, berühren Laien und Connaisseure gleichermaßen tief - und demonstrieren, dass es auch im Zeitalter der irritierend unübersichtlichen postmodernen Vielfalt noch möglich ist, ein in fast romantischer Weise gewachsenes , am ersten Ton identifizierbares Idiom zu entwickeln. Weltoffenheit, ohne auf seine Herkunft zu vergessen. Nur wenigen gelingt dieser ästhetische Spagat so glaubhaft und so entwaffnend sinnlich wie Wolfgang Puschnig. Eine Botschaft mit Modellcharakter. Nicht nur für Europa. Nicht nur für Kärnten.
Andreas Felber