Nach New York bin ich in etwa zu dem Zeitpunkt umgezogen, als ich für das neue Album zu schreiben anfing. Zuvor hatte ich immer in San Francisco gelebt und war richtig neugierig, inwieweit die neue Umgebung auch meine Musik beeinflusst. Die Resultate sind durchaus dramatisch. Diese Lieder konnten nur an einem Ort wie New York entstehen, mit den Extremen von Menschenmengen und Isolation, gnadenlosem Tempo und überwältigender Vielfalt. Hier stößt man an jeder Ecke auf historische Details aus Ländern der ganzen Welt und das kann einen im gleichen Atemzug willkommen heißen und fürchten lassen. Ich denke, vieles von dieser besonderen Stimmung, hat den Weg in die Lieder dieses Albums gefunden. Alles fühlt sich ehrgeizig und dringend an, sogar in den leisen Liedern. Ich kann den Eindruck der Untergrundbahnen wie auch der Wolkenkratzer darin wieder finden. (Vienna Teng)
Mit einem Schmunzeln denkt Vienna Teng an die zwei Jahre zurück, als sie versuchte, in Silicon Valley als Computerspezialistin zu bestehen. Die Zeit, meint sie in der Rückschau, habe ihr bewiesen, dass sie in der Lage sei, so ziemlich jeden Rechner abstürzen zu lassen, der ihr zwischen die Finger komme. Aber genau genommen hatte sie auch nicht vor, in diesem Business Karriere zu machen. Da war zwar das Studium der Computerwissenschaften an der Stanford University, das sie im Jahr 2000 erfolgreich abgeschlossen hatte, und ein Versprechen an die Eltern, es doch wenigstens in einem richtigen Beruf zu probieren. Ihre Zukunftsträume drehten sich aber um andere Dinge. Während des Studiums hatte sie bereits bei den Stanford Harmonics gesungen, einer A Cappella Gruppe der Universität, und außerdem im hauseigenen Tonstudio ein paar Aufnahmen gemacht, die sie auf dem Campus an befreundete Kollegen verteilte. Das alles waren noch ein wenig unbeholfene Anfänge, aber für Vienna Teng untermauerten sie den Plan, eines Tages ihr Glück als Musikerin zu versuchen.
Und ganz so unschuldig an ihrer künstlerischen Entwicklung, wie es scheinen mag, waren die Eltern dann auch nicht. „Zu den ersten Momenten, an die ich mich überhaupt erinnere, gehörten die Abende, als mein Vater mit seiner Gitarre an meinem Bett saß, und mir Schlaflieder vorsang. Das hat mich geprägt“, meint die Künstlerin in der Rückschau. Und auch sonst gab es zu Hause viel Musik zu hören und zu entdecken. Vienna Teng, geboren 1978 als Cynthia Yih Shih im kalifornischen Saratoga, stammt aus einer taiwanischer Emigrantenfamilie mit chinesischen Wurzeln. Gesungen wurde viel, im Plattenschrank fanden sich Simon & Garfunkel und James Taylor ebenso wie europäische Klassik und Mandarin Pop der Sechziger. „Ich kann nicht sagen, wo genau meine Wurzeln liegen, das hängt sehr von dem jeweiligen Song ab, den ich schreibe. Aber als ich beispielsweise meinen Eltern die ersten eigenen Lieder vortrug, meinten sie immer: 'Und wo ist die Melodie?' oder 'Das ist aber eine schöne Melodie!'. Das hat durchaus mit der Tradition in Taiwan und China zu tun. Und es ist mir als grundlegende Idee meiner Stücke geblieben. Ich achte bis heute zuerst auf die Melodie“.
Musik macht Vienna Teng seit ihrem fünften Lebensjahr, hatte Klavierstunden bis in die Teenagerzeit. Den Gesangsunterricht gab sie schnell auf, weil sie keine Lust verspürte, einen Haufen Dollars dafür zu zahlen, dass ihr jemand sagt, dass sie alles falsch mache. So blieb sie Autodidaktin, schrieb als Kind die ersten Songs und gab sich sogar einen neuen Namen: „Als ich ein paar Rocksachen spielte und den kindlichen Beschluss fasste, einmal ein Star zu werden, wollte ich unbedingt auch einen Künstlernamen haben. So kam ich auf Vienna Teng, 'Vienna' als Hommage an die Stadt Wien, die ich mir als Heimat von Mozart und Beethoven immer märchenhaft vorstellte. Als ich unlängst einmal wirklich dort war, habe ich allerdings festgestellt, dass Wien ganz anders ist, als ich es mir eingebildet hatte. Gefallen hat es mir trotzdem“. Die Verbindung im Namen zu Teresa Teng, der populären chinesischen Sängerin der Achtziger, sei allerdings Zufall, auch wenn ihr deren Lieder durchaus vertraut seien.
Und die eigene Karriere? Sie begann, kurz nachdem Vienna Teng ihren Job bei der Computerfirma an den Nagel gehängt hatte. Noch 2002 veröffentlichte die Newcomerin ihr Debüt-Album „Walking Hour“, das bereits auf genügend wohlwollende Resonanz stieß, um ihr im folgenden Jahr eine Einladung in David Lettermans „Late Show“ einzubringen, ein im Rückblick surreales Ereignis, das ihr inzwischen kaum noch wahr vorkommt. Vienna Tengs Popularität jedenfalls stieg stetig. Im Jahr 2004 folgte „Warm Strangers“, das sie bereits in die Billboard Spartencharts brachte (Top Heatseekers, Top Independent Albums und Top Internet Albums), vor knapp zwei Jahren schließlich das hochgelobte Songalbum „Dreaming Through The Noise“ (2007). Die Sängerin mit der lyrisch klaren Stimme wurde eingeladen, Konzerte von Kolleginnen wie Shawn Colvin, Joan Osborne, Patty Griffin, Joan Baez oder auch den Indigo Girls zur eröffnen und ging selbst fleißig auf Tournee. Ihr gelang der Absprung in die musikalische Selbständigkeit, denn ihre Lieder berühren die Menschen: „Ich habe das Glück, ein loyales Publikum zu haben. Es hat Vertrauen in mich, ist neugierig auf meine Lieder und trägt mich mit, solange ich Bedeutungsvolles mitzuteilen habe“.
Die Menschen mögen Vienna Teng, denn ihre Lieder brauchen keine Klischees, um zu wirken. Im Gegenteil: Die seit eineinhalb Jahren in New York lebende Sängerin liebt die Vielfalt der Einflüsse, die sie von überall annimmt und zu Eigenem verarbeitet. Das war schon auf „Dreaming Through The Noise“ so und wird mit „Inland Territory“ noch deutlicher. „Ursprünglich war das Album als drei EPs gedacht, jede mit einem anderen Thema und einem leicht unterschiedlichen Klangcharakter. Die 'Pop-EP' handelte von persönlichen Beziehungen und hatte eine eher klassische Instrumentierung. Die 'Rock-EP' beschäftigte sich mit verschiedenen geopolitischen Szenarien und war mehr von elektrischen Gitarren und dissonanten Sounds geprägt. Die 'Folk-EP' schließlich wurde überwiegend live in einer Kirche und einem Zimmer in einem alten Haus in San Francisco aufgenommen und enthielt Lieder, die mir einfielen, als ich mich mit meiner Familie beschäftigte. Zum Schluss wurde dann doch ein Album daraus und ich stellte fest, dass alle drei Teile ein gemeinsames Thema durchzieht. Es geht um eine grundlegende Dankbarkeit. Mit dieser Musik habe ich verstanden, wie begünstigt ich eigentlich bin und was für Verantwortung daraus erwächst, dass ich so glücklich bin“.
Stichwort Verantwortung. Es ist ein wichtiger Punkt in Vienna Tengs Alltag und Künstlerleben. Im November 2008 etwa war sie mehrere Wochen in Argentinien unterwegs, um freiwillig der Non-Profit-Organisation „Habitat for Humanity“ zu unterstützen, die sich weltweit für eine menschenwürdige Unterbringung auch der Ärmsten einsetzt. Vienna Teng sieht sich in der Verantwortung, im Leben wie in ihrer Kunst. Das prägt auch einige ihrer neuen Lieder: „Ich gehöre nicht zu denen, die mit dem Finger auf andere Leute zeigen, sondern sehe mich eher mittendrin. Der Song 'Radio' zum Beispiel handelt von dem Nahostkonflikt und wie einfach es ist, das alles aus der sicheren Ferne in Kalifornien mitzuerleben. Ich habe versucht, mir die Situation vor Ort vorzustellen, verschiedene Sichtweisen aufzuzeigen. In der Mitte klingt der Song daher, als würde man an einem Radio die Stationen durchzappen. Für 'Oh Gringo', ein Lied über die illegale Immigration an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, habe ich, um spanisch zu singen, extra die Grammatik und Aussprache gelernt, um mich nicht zu blamieren. Für Songs wie 'Augustine' und 'St.Stephen's Cross' habe ich ausführlich christliche Texte studiert und mich für 'In Another Life' mit der chinesischen Kulturrevolution und Berichten über Grubenunglücke auseinandergesetzt“.
Vienna Teng denkt sich in andere Menschen und Schicksale hinein, reflektiert Familie, Beziehungen, letztlich ihre Existenz. Sie ist eine pragmatische Philosophin, erhebt ihre Stimme, erzählt Geschichten, nicht klagend oder anklagend, aber deutlich Position beziehend. Das macht „Inland Territory“ zu einem persönlichen, bewegenden Album, das sich klar und mit Anspruch vom popmusikalischen Alltag abhebt. Und vor allem singt sie mit bewegend natürlicher Stimme und macht faszinierend vielfarbige Musik. „Meine Lieder sind zunächst nur ein Gerüst, das ich dann nach und nach mit Klängen fülle. Bei 'Inland Territory' habe ich in dieser Hinsicht viel von Alex Wong gelernt, einem alten Freund, wunderbaren Schlagzeuger und Bandkollegen. Ich wolle es unbedingt coproduzieren und er hat mir da in vieler Hinsicht die Augen geöffnet“. So wurde „Inland Territory“ ein erstaunlich vielschichtiges, ehrliches Album, unmittelbar in der Wirkung und zugleich durch die beiläufig komplexen Arrangements voller kleiner musikalischer Überraschungen. Es setzt Vienna Tengs bisherige Entwicklung fort, in eine Richtung, die sie zielstrebig in das Pantheon des großen amerikanischen Songwritings führt.
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laut.de
Die Amerikanerin Vienna Teng ist Sängerin und Pianistin. Wie diese Konstellation im Popkontext klingen kann, haben bereits Tori Amos, Fiona Apple und Regina Spektor überzeugend vorgeführt.
Mit ihrem dritten Album "Dreaming Through The Noises" steht nun Vienna Teng im Zentrum des Interesses. Eine Kategorisierung ihrer Musik ist schwierig, da gleichermaßen Jazz, Klassik, Country und weltmusikalische Einflüsse in die Arrangements einfließen, die sich aber nie völlig dem klassischen Verständnis von Popmusik verschließen. Das Ergebnis bezeichnet die 28-jährige Künstlerin selbst als Kammerpop. Das ist insofern stimmig, da Vienna Teng das Werk überwiegend mit klassisch ausgebildeten Musikern und dem entsprechenden Instrumentarium eingespielt hat.
Das Album beginnt mit dem stimmungsvoll verträumtem "Blue Caravan", einem Song, der eine imaginierte Beziehung zum Thema hat. Zu dem gezupften Cello gesellen sich ein sanftes Flügelhorn und ganz weiche Klavierakkorde, ehe der samtene Gesang Viennas einsetzt, der leise von Streichern untermalt wird. Das folgende "Whatever You Want" ist rhythmischer, trägt poppigere Züge und hat enormes Ohrwurmpotenzial. Nach dem Piano-Intro gibt das Schlagzeug den Takt vor, der verhaltenen Strophe folgt ein mit erhobener Stimme vorgetragener melodischer Refrain, der von Streichern begleitet wird. Inhaltlich reflektiert der Song das Ende einer Beziehung.
"Love Turns 40" ist dramaturgisch und melodisch großartig, baut eine Spannung auf und spitzt sich instrumental zu, um anschließend wieder zu sich zu kommen. Im fantastischen, melancholischem "I Don't Feel So Well" und in "Now Three" erinnert der Gesang sehr an Tori Amos. Macht aber nichts. Die tolle Melodie, die Streicher-Arrangements und das Akkordeon machen "I Don't Feel So Well" dennoch zum besten Song der Platte.
In "City Hall" präsentiert sich Vienna Teng von ihrer countryesquen Seite, ein Steel-Gitarre erklingt neben dem Piano, der Refrain wird mehrstimmig vorgetragen. Ein schlichte, aber sehr schöne Songstruktur. Dem ruhigen "Nothing Without You", in dem Vienna ihr stimmliches Potenzial ausspielt, folgt "Transcontinental. 1:30 A.M.", das mit einem entspannten Bossa Nova-Groove und einem Trompeten-Solo von Till Brönner aufwartet und einen der Höhepunkte des Albums darstellt.
"1BR/1BA" mutet zuerst dissonant an, ehe sich eine harmonische Melodielinie offenbart. Im zutiefst bewegenden und verstörenden "Pontchartrain" verarbeitet Vienna Teng die verheerende Überflutung von New Orleans durch den Wirbelsturm Katrina. Das Album endet leise, aber versöhnlich mit dem Song "Recessional", das Vienna zum Piano und einem dezent eingesetzten Bass berührend intoniert.
Auch wenn Vienna Teng zwangsläufig mit Piano spielenden Kolleginnen verglichen wird, "Dreaming Through The Noises" ist eine fantastische und vielseitige Platte. Das liegt nicht nur an dem anspruchsvollen und unter die Haut gehenden Sopran der Künstlerin, den intelligenten und introspektiven Lyrics, den erfrischenden Klavierläufen oder den immer greifbaren Melodiebögen, sondern auch an der hervorragenden Arbeit des Produzenten Larry Klein, der auch mit Madeleine Peyroux und Till Brönner zusammengearbeitet hat. Die musikalischen Arrangements - Streicher, Bläser, Percussion - sind derart treffsicher, unprätentiös und weich gesetzt, dass eine Sensibilität spürbar wird, die der derzeitigen Poplandschaft qualitativ eine neue Note hinzufügt.