Zeitlos ernüchternd: Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“
Das Große Haus des TLT startete mit einem Klassiker des letzten Jahrhunderts ins neue Jahr.
Konjunktur für eine Leiche: Das ist der Deal, den sich Milliardärin Claire Zachanassian als Rache oder Vergeltung für das Kaff ihrer Herkunft ausgedacht hat. Wenn die Güllener die Milliarde wollen, müssen sie also leider sprichwörtlich in die Gülle greifen und ihren Mitbürger Ill opfern. Natürlich ist die Entrüstung zunächst groß. Wozu hat man schließlich abendländische Werte. Doch der Ort ist bankrott, dafür hat die omnipotente Milliardärin bereits im Vorfeld gesorgt. Das wissen die vermeintlichen Honoratioren des Ortes freilich noch nicht, wenngleich die etwas Hellsichtigeren schon so eine düstere Ahnung befällt. Denn ausgerechnet der Pfarrer fragt Ill noch vor Claires erstem Auftritt, ob er eventuell etwas zu gestehen habe. Und den Lehrer erfasst bei ihrem Anblick sogar so etwas wie Schaudern, sie erinnere ihn an eine griechische Schicksalsgöttin, sagte er. Das ist sie in der Tat. Ill hat einst nicht nur die Vaterschaft des gemeinsamen Kindes bestritten, sondern darüber hinaus zwei dümmliche Jungs aus dem Ort einzig mit einer Flasche Schnaps dazu gebracht, vor Gericht zu behaupten, sie hätten ebenfalls mit ihr geschlafen. Die beiden führt sie nun als blinde Eunuchen Koby und Loby in ihrer Entourage, den damaligen Richter hat sie zu ihrem Butler auf Lebenszeit gemacht. Fehlen also nur noch Ill und der Stachel einer ewigen Mitschuld, den sie den Güllenern durch diesen Deal arglistig verpassen will. Was nun folgt, ist nicht nur ein Lehrstück über die Korrumpierbarkeit des Menschen und seine damit einhergehende Fähigkeit, sich Realitäten immer so zu konstruieren, dass er nahezu jedwedes Unrecht damit für sich erklären und rechtfertigen kann. Es ist vor allen Dingen eine geradezu prophetische Darlegung der eigentlichen Ursachen unserer gegenwärtigen Endloskrisen. Nach dem „Besuch der alten Dame“ wird einem unversehens klar: der Turbokapitalismus der Jetztzeit hat seinen mythischen Ursprung in Güllen. Weil die Aussicht auf Geld und ein angenehmeres Leben einfach derart verlockend ist, beginnen die Güllener sich nämlich blindlings zu verschulden. Dürrenmatt genügen hierfür einige wenige Signale. Erst ist es nur einer, der plötzlich gelbe Schuhe trägt, später sind es alle, außer Ill. Der nimmt den schleichenden Gesinnungswandel als Erster wahr, kämpft zunächst noch dagegen an, bis er irgendwann erkennen muss, dass er gegen diese Übermacht nicht den Funken einer Chance hat. Seine Figur ist insofern bemerkenswert, als sich der einstige Feigling und Opportunist schließlich geradezu heroisch in sein unausweichliches Schicksal fügt. Mehr noch als das: er wird selbst zu einem Mahnmal, denn er wählt nicht etwa den Freitod, sondern zwingt die Güllener dazu, sich wirklich an ihm die Hände schmutzig zu machen. Irmgard Lübke inszenierte den Dürrenmatt-Klassiker für das Große Haus in eindrücklichen fast ikonographischen Bildern, für die Helfried Lauckners skelettartige Plakatstelen und riesige Börsencharts sowie Andrea Kuprians selbsterklärenden Kostümen ein geradezu perfektes Setup lieferten. Großartig etwa die Darstellung der alten Dame (Antje Weiser) im meterhohen überdimensionierten Brautgewand, wenngleich sie mich mit ihrem Rotschopf phasenweise etwas zu sehr an Vivienne Westwood erinnerte. Durch die konsequente szenische Überhöhung und die zahlreichen musikalischen Inserts von Franui-Musiker Andreas Fuetsch blieb das dämonisch Lauernde des Stücks aber irgendwie seltsam auf Distanz. Gleichwohl das Ensemble durchwegs kraftvoll agierte, hätte ich mir etwas mehr direkte Interaktion gewünscht, um so dem abscheulichen Machtspiel besser nachspüren zu können.
Leider zu früh gefreut: Claire (Antje Weiser) hat den Sarg für Ill (Andreas Wobig) bereits in ihrem Gepäck.