Einipulvern, aussipulvern
Die sogenannte Jahres-Wasserscheide ist jeweils der Höhepunkt der Zeitrechnung. Das eine Jahr rinnt irgendwie südlich den Bach hinunter, während sich das neue Jahr nördlich seinen Weg bahnen wird oder umgekehrt.An dieser imaginären Zeitklippe werden selbst die mittelmäßigsten Menschen zu introvertierten oder extrovertierten Hasardeuren, die sich kurz der Gegenwart stellen, die sich auch um Mitternacht nicht anhalten lässt und sich ritsch-ratsch in Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen auflöst.
Die Extrovertierten sind die sogenannten Aussipulverer, die alles, was sie gerade an Kohle übrig haben, in Raketen und Alkohol anlegen und mit offenen Händen hinauswerfen. Manch einer hält dabei den Böller zu lange in der Hand und sprengt diese gleich weg als Gruß ans neue Jahr.
Die Introvertierten freilich machen auf Besinnung und übergeben das verflossene Jahr der Geschichte. Vor allem Archivare, Dichter und Historiker packen alles, was vom vergangenen Jahr übriggeblieben ist, in Kisten und überantworten diese einem Bunker in der Hoffnung, dass nachfolgende Generationen ihr eigenes Leben unterbrechen werden, um diesen gespeicherten Scheiß zu lesen und aufzuarbeiten.
In Sonderschichten müssen Journalisten diverser Medien ihre ausgestrahlten und ausgedruckten Meldungen kurz für einen sogenannten Jahresrückblick zusammenfassen, ehe sie dem Vergessen überantwortet werden. Manch einer legt dabei eine kleine Besinnung hin, die ihm das ganze Jahr über nicht gelungen ist. Der Literaturchef im ORF-Tirol etwa verpackt das persönlich gehaltene Resümee in eine grandiose Fügung: „In Tirol gibt es sehr viel tolle Kultur, aber letztlich haut einen nichts vom Sessel.“
Hinter dieser recht ernüchternden Formulierung steckt letztlich die Tatsache, dass die offizielle Kultur im Land von Fünfzig-Plus-Jährigen gemacht wird, die sich fallweise als Journalisten, Künstler, Beamte oder Publikum ausgeben. Diese unaufgeregte Kultur verschönert das Leben durch das ganze Jahr. In eine Krise gerät diese wohldosierte Lebensform höchstens zu Jahresende, wenn absolut nichts übrig bleibt, was man entweder in die Luft aussipulvern oder ins Archiv einipulvern könnte.