Freihaus 4 hat ein Brecht/Weill Programm erarbeitet. Songs aus der Dreigroschenoper, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Happy End wurden erstmals ins Wienerische übersetzt. Die Rechte zur Bearbeitung zu erhalten, ist eine kleine Sensation. Die (hoch)deutschen Texte wurden von Tini Kainrath ins Wienerische übertragen. Die Schauplätze der Lieder wechseln von London (Dreigroschenoper) oder dem Mittleren Westen der USA (Mahagonny) nach Wien – aus Soho wird der Prater! Neu sind auch die Arrangements der beteiligten MusikerInnen. Ausgehend vom Originalmaterial Kurt Weills sind Arrangements entstanden, die zwischen Klassik, Chanson, Jazz, Tango und Wienerlied changieren.
Damit befindet sich das Ensemble auf dem schmalen Grad zwischen Althergebrachtem (in Form des Wiener Idioms) und Neuem (neue Arrangements über diese Musik, die aus den 30ern des vorigen Jahrhunderts stammt). CD und Vinyl Doppel-LP sind im Oktober 2011 bei Preiser Records, Wien, erschienen!
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„Denn wia ma si’s eiricht, so liegt ma“
Brecht/Weill auf Wienerisch mit Freihaus 4
Was wäre, wenn... Kurt Weill und Bertolt Brecht ihre größten Bühnenwerke nicht in London oder im amerikanischen Mittelwesten, sondern im Wiener Prater angesiedelt hätten? Dieser Frage spüren Tini Kainrath, Sigi Finkel, Monika Lang und Melissa Coleman – kurz: Freihaus 4 – mit ihrer neuen CD nach. Und kommen zu erstaunlichen Ergebnissen
Zu Beginn steht eine große Liebe. Eine große Liebe zu den wohl ewig gültigen Songs, die der Dichter Bertolt Brecht und der Komponist Kurt Weill Ende der 1920er und Anfang der 1930er-Jahre in Berlin schrieben. Der „Bayer in Wien“ Sigi Finkel, Saxofonist, Flötist und Komponist in verschiedensten Jazz- und Weltmusik-Kontexten, hat die vage Idee von einem Brecht/Weill-Programm; mit der Cellistin Melissa Coleman und der Pianistin Monika Lang hat er auch schon „ein Vorläuferprojekt gemacht, bei dem sich herausgestellt hat, dass wir drei sehr gut persönlich und musikalisch miteinander können.“
Fehlt noch eine Sängerin. Tini Kainrath, laut eigenen Aussagen „mit der ‚Dreigroschenoper’ aufgewachsen“, ist auf Grund ihrer musikalischen Vorgeschichte (The Rounder Girls, Hallucination Company, „Gershwin in Wien“, Solistin beim Upper Austrian Jazz Orchestra...) die stimmliche Idealbesetzung. Das Quartett trifft sich – wo sonst – zunächst einmal im Kaffeehaus und schmiedet den Plan, die „Dreigroschenoper“ textlich und musikalisch in den Wiener Prater zu verlegen. Erste Entwürfe entstehen, Tini Kainrath textet, die anderen drei arrangieren. Dann ein herber Rückschlag: Laut rechtlichen Verfügungen dürfen aus den großen Brecht/Weill-Bühnenwerken nicht mehr als jeweils fünf Songs bearbeitet werden.
Schließlich gelingt es Freihaus 4, den Musikverlag und sogar die gestrenge Brecht-Erbin Barbara Brecht-Schall von der Qualität der Bearbeitungen zu überzeugen. Sigi Finkel: „Wir waren die ersten, die überhaupt so eine Genehmigung bekommen haben.“ Das Endprodukt „Im Proda“ kann sich aber auch wirklich hören (und sehen) lassen: je eine Handvoll Songs aus „Die Dreigroschenoper“ (1928), „Happy End“ (1929) und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (1930), kongenial von Tini Kainrath ins Wienerische Idiom übersetzt, von Melissa Coleman, Monika Lang und Sigi Finkel behutsam mit Jazz-, Chanson- und Wienerlied-Flair versehen und aufs Wesentliche (Stimme, Saxofon/Flöte, Klavier, Cello) reduziert.
„Da Gschwinde“ und Konsorten
Sehr schnell wird klar, dass es thematisch um die Halb- und Unterwelt gehen soll, um Ausgestoßene und gescheiterte Existenzen. Freihaus 4 betreten das Lustviertel im und um den Wiener Prater und lassen ein wahres Panoptikum an Huren, Strizzis, Säufern und Kleinkriminellen aufmarschieren: Mackie Messer mutiert zum „Gschwinden“, der nun statt am Themseufer am Handelskai sein Unwesen treibt, die Whisky-Bar aus dem „Alabama Song“ ist natürlich ein Heuriger (Zitat: „Gebts uns an Gspritzn, es tuat so weh“), und der Surabaya Johnny heißt „Casineum Carlo“ („Heast, gib in Tschick aus da Pappm, du Oasch!“).
„Im Proda“ ist nicht als Konzert, sondern als Bühnen-Performance angelegt, weil man sich dem Thema nicht abgeklärt von außen annähern will. Also schlüpfen Freihaus 4 nicht nur in diverse in den Songs angelegte Rollen, sondern auch in kurze Röcke, Netzstrümpfe und Federboas und tragen dicke Schminke auf. Kurz: Sie erzählen, mit Tini Kainrath als Haupt-Protagonistin, auf sehr unmittelbare Weise die Geschichten von gefallenen Engeln, miesen Zuhältern und Branntweinern, die ohnehin schon immer in Brechts Texten schlummerten.
Das stellte übrigens auch schon Friedrich Torberg fest, der Brecht damit konfrontierte, Textteile der „Dreigroschenoper“ ohne Quellenangabe aus der Villon-Übersetzung des Wiener Lyrikers K.L. Ammer (Pseudonym für Klaus Klammer) übernommen zu haben. Nachzulesen ist das bei Torberg, PPP 190 f.: „In Sachen Bertolt Brecht“, Pamphlete, Parodien, Postscripta = Torberg Werke III, Langen Müller, München 1964. (Ich danke meinem Kollegen Gerhard Strejcek für diesen wichtigen Hinweis.) Brecht hat sich unter Bezug auf seine „grundlegende Nachlässigkeit in Hinblick auf geistiges Eigentum“ in einer Reaktion auf einen Artikel des Theaterkritikers Alfred Kerr schon 1929 dafür entschuldigt.
Die Vier von Freihaus 4
Tini Kainraths Ruf als Vokalistin und (Film)schauspielerin reicht mittlerweile bis über die Grenzen Österreichs hinaus. Ansatz- und mühelos versteht sie es, zwischen Jazz, Rock oder Wienerlied hin- und herzuwechseln. Sie ist nicht nur eine der wenigen Sängerinnen ihrer Generation, welche die fast vergessene Kunst des „Dudelns“ beherrschen, sondern hat auch eine Bühnenpräsenz, um die sie viele Kolleginnen beneiden. Mit ihren Übersetzungen der Brecht/Weill-Vorlagen ins Wienerische hat sie „versucht, so nahe wie möglich am Original zu bleiben, ohne etwas zu verändern oder ‚lustiger’ zu werden.“ Ihre Interpretation findet genau jene Balance zwischen Nonchalance und Betroffenheit, die Lieder wie „Zuahöta“ („Die Zuhälterballade“) oder eben „Im Proda“ („Bilbao Song“) brauchen.
Von Sigi Finkel stammt nicht nur die Grundidee für dieses Projekt, er ist auch an Sopran- und Tenorsaxofon und Flöte sowie mit groovig-jazzigen Arrangements präsent. Dazu verkörpert er auch einen der Strizzis, die in den Songs vorkommen. „Auf der Bühne ist Sigi unser Zuhälter, und wir drei sind die Femmes fatales, die Edelnutten“, erklärt Melissa Coleman die Rollenverteilung. Sigi Finkel bringt seine immense Erfahrung aus den Bereichen Jazz, Flamenco, Fusion und Afrikanische Musik ein und ist maßgeblich an diesem „Hüften schwingenden Ritt durch Tango und Wienerlied, Jazz, Chanson und Klassik“ (CD-Booklet) beteiligt.
Ein weiteres Drittel der Arrangements stammt von der Pianistin Monika Lang, einer Grenzgängerin zwischen Klassik und Jazz. Sie hat (meist unter ihrem Mädchennamen Etzelt) schon mit der Crème des österreichischen Jazz von Teddy und Alex Ehrenreich bis Agnes Heginger gearbeitet, tritt auch als Solistin auf und bespielte schon nationale wie internationale Bühnen. Bei Freihaus 4 ist sie oft der „Fels in der Brandung“; mit wohl kalkulierten Akkorden setzt sie das Fundament für die Musik, überrascht aber immer wieder mit schlau konstruierten Soli.
Ein „Australien-Import“, auf den wir in Wien sehr stolz sind, ist die umtriebige Cellistin Melissa Coleman. Sie hat sich nach einem klassischen Cello-Studium vor allem der Neuen Musik zugewandt, ist Mitglied des Ensembles des 20. Jahrhunderts und des langlebigen Koehne Quartetts, arbeitete schon im Trio mit Karl Ritter und Otto Lechner, mit dem Kontrabassisten Peter Herbert und in verschiedenen Bühnenorchestern. Erst Anfang dieses Jahres hat Melissa Coleman mit „Backdoor“ (Extraplatte) eine interessante CD mit jazzigen Kompositionen vorgelegt. Für „Im Proda“ steuert sie nicht nur Walking-Bass-Linien und flinke bis groovige Cello-Läufe, sondern auch rhythmisch vertrackte Arrangements bei.
Interessant waren für die MusikerInnen die Publikumsreaktionen bei den ersten Aufführungen des neuen Programms. Tini Kainrath: „Es ist nicht so ein lustiges Programm, das man laut bejubelt, sondern – wie wir bei einem Vorauftritt in Klosterneuburg festgestellt haben – es ist teilweise für das Publikum bestürzend.“ Und Melissa Coleman meint lakonisch: „Für viele Zuschauer ist es ein Schock, eine Watschen ins Gesicht.“ „Im Proda“ ist sicher kein Feelgood-Programm, das stimmt. Aber Tini Kainrath, Sigi Finkel, Monika Lang und Melissa Coleman ist das Kunststück gelungen, die Brecht/Weill’schen Vorlagen in eine schlüssige, authentische Form zu gießen, ohne in plumpe Persiflage abzurutschen – und das auf höchstem musikalischen und textlichen Niveau.
Text & Interview: Martin Schuster
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Tini Kainrath (Vocals)
ist Wienerin. Ihr Spektrum erstreckt sich von Soul, Blues und Gospel (mit den Rounder Girls, mit denen sie auch am Song Contest teilnahm) über Rock (Hallucination Company) und Jazz (Zipflo Weinrich, Harri Stojka) bis zum Wiener Lied und Dudler.
Legendär sind ihre Auftritte in diversen Fernsehshows (Dancing Stars) und in ihren Rollen in Film und Fernsehen (Muttertag, Untersuchung an Mädeln, Wanted, Kaisermühlen Blues, Tatort, Dolce Vita)
Sigi Finkel (Saxophone & Flöten)
stammt aus Deutschland und lebt seit 1982 in Wien. Neben seiner Kooperation mit nationalen und internationalen Größen des Jazz (John Abercrombie, Enrico Rava, Tomasz Stanko, Joseph Bowie, Wolfgang Puschnig) beschäftigt er sich seit mehr als einem Jahrzehnt vorwiegend mit diversen Spielarten der Worldmusic und leitete u.a. afrikanisch und arabisch orientierte Formationen. Mehr als 15 CD's unter eigenem Namen sowie Konzerttourneen und Festivalauftritte in ganz Europa, Afrika, Amerika und Asien.
Österr. Jazzmusiker des Jahres 2000 (Concerto-Leserpoll).
http://www.sigifinkel.com
Monika Lang (vormals Etzelt)
kommt ebenfalls aus Wien und hat klassisches und Jazzklavier am Konservatorium der Stadt Wien studiert. Neben ihrem Soloprogramm spielt sie auch in diversen Formationen u.a. mit Wolfgang Reisinger, Hans Strasser, Ingrid Oberkanins.
Weitere Zusammenarbeit mit Hans Dulfer, Harri Stojka, Teddy Ehrenreich-Bigband, Agnes Heginger, Rens Newland u.v.a. Kompositionsaufträge für diverse Besetzungen.
Melissa Coleman (Cello)
kommt aus Australien. Sie studierte Cello und Klavier am Victorian College of the Arts Melbourne. Lebt seit 1992 in Wien. Gewinnerin diverser Preise und Auszeichnungen. Konzerte und Tourneen auf allen Kontinenten.
Eigene Kompositionen für Musik-Theater, Tanz-Theater, Kammermusik, Experimental und Improvisiertem Jazz, Worldmusic und als Interpretin Neuer Musik.
Mitglied im Ensemble des 20. Jahrhunderts sowie Zusammenarbeit u.a mit dem Klangforum Wien, Wiener Burgtheater, in der improvisierten Musik mit Karl Ritter und Otto Lechner.
Seit 1996 Mitglied im Koehne Quartett.