Stilfs: Mit Leidenschaft wider die chemische Invasion
Viele kennen das Stilfser Joch. Aber wer kennt schon den Ort, der dem Joch seinen Namen geliehen hat?
Auf einem steil abfallenden Berghang liegt Stilfs, Namensgeber des gleichnamigen Joches. Und es scheint, als ob sich die Häuser des Ortes gegenseitig stützen müssten um nicht mit Karacho in die Tiefe zu rauschen. Dort, wo angeblich selbst Hühner Steigeisen brauchen, tut sich soviel Überraschendes, dass ich davon berichten will.
Es war beim Festival „hier und da – Gut leben im ländlichen Raum“ im April 2019 in Schluderns. Eine junge Frau erzählte von einer Gruppe mit dem Namen „Leidenschaft für Grund und Boden“ die sich in Stilfs zusammengefunden hatte. Ein Namen, der für Aufmerksamkeit sorgte. Und dann erst der Inhalt. Er ‚elektrisierte’ nicht nur mich.
Der Ausgangspunkt: Jahrzehntelang hat Stilfs unter der Abwanderung seiner Bewohner gelitten. Seit einiger Zeit gewinnen leer stehende Häuser und Wohnungen bei jungen Leuten wieder an Interesse. Und dennoch befindet sich das Dorf in einer Art Dornröschenschlaf. Bisher fehlten ganz offensichtlich Ideen, Visionen und ein bewusster Blick in die Zukunft, um die Bewohner wieder zu begeistern.
Da ist von Leidenschaft die Rede
Nun ist sogar von einer neuen Leidenschaft die Rede. Was bedeutet Leidenschaft für Stilfs in Zeiten fortschreitender Abwanderung von Bewohner_innen? Wie schaut’s überhaupt mit Arbeitsplätzen in Stilfs aus? Aber vielleicht geht’s wenigstens den Bergbauern so halbwegs? Und: wird Stilfs zu einem weiteren Standort Südtiroler Apfelmonokulturen und dem damit verbundenen massiven Gift-Chemieeinsatz?
Der ‚Rütli-Schwur‘ von Stilfs
Ich möchte weder übertreiben noch pathetisch klingen. Aber mir ist es bei der Vorstellung der Gruppe „Leidenschaft für Grund und Boden“ in Schluderns warm um’s Herz geworden. Da tun sich junge Leute zusammen um etwas zu verändern, sie nehmen ihre Zukunft selbst in die Hand. Unwillkürlich vermutete ich, in Stilfs wäre es zu einer Art ‚Rütli-Schwur‘ gekommen nach dem Motto: „Wir sollen sein ein einig Volk von Stilzern!“ (Stilzer nennen sich die Leute des Bergdorfes selbst, also nicht Stilfser. Wär auch zu umständlich.) Oder wie drückt man es aus, wenn junge Leute zusammenstehen und sich gegenseitig ermutigen, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen?
Für mich taten sich eine ganze Reihe von Fragen auf:
- Wie kann diese Aufbruchsstimmung transportiert und Optimismus tatsächlich gelebt werden?
- Wie überwindet man ‚Schweigen’, Hinnehmen' und eine besondere Form der Apathie innerhalb des Dorfes mit positiver, wohltuender und optimistischer Kommunikation?
- Und vor allem: was benötigt es, ‚Gemeinsamkeit‘ an die Stelle jenes ausbreitenden Individualismus zu setzen, der als Phänomen nicht allein in Stilfs, sondern global erkennbar ist?
Um Antworten auf meine Fragen zu erhalten machte ich mich nach Stilfs auf.
Stilfs ist ein Ort wie aus dem Bilderbuch. Da gibt’s kaum einen ebenen Flecken.
Ich gestehe, noch nie vorher in Stilfs gewesen zu sein. Wie sich herausstellte hatte ich da einiges versäumt. Nicht nur, weil ich mit dem Gasthof zur Sonne einen weiteren kulinarischen Tempel mit grandiosem Blickkontakt zu König Ortler entdeckt habe. Die Hangneigung war es, die mich von allem Anfang an tief beeindruckte. Und dann die steilen, schmalen Gassen von Stilfs, die selbst geübten Bergfexen einiges abverlangen. Ob die im Winter in vereistem Zustand überhaupt begehbar sind bleibt dahingestellt. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem auch ‚Hühner Steigeisen brauchen‘, wie es die Vinschger ausdrücken, wenn sie von Stilfs reden.
Ich hatte mit Verena Wopfner und ihrem Mann Ulli Platzer einen Termin vereinbart. Also mit jenem Ehepaar, das am Festival in Schulderns so eindrucksvoll über die Aktivitäten in ihrer Gemeinde berichtet hatte. Und die auch zu den Initiatoren der ‚Leidenschaft’ zählen. Was ich nicht wusste: Verena ist eine renommierte ‚Filz-Künstlerin‘, die aus der Wolle ihrer Schafe dreidimensionale Meisterwerke aus Filz zaubert. Ich werde sie und ihre Arbeit in einem der nächsten Blogs vorstellen. Ich besuchte sie in ihrem Haus am Kirchplatz in Stilfs, wo sie über den Beginn dieser einmaligen Aktivität junger Leute in Stilfs erzählte.
Der grandiose Blick von der Sonnenterrasse des Hotels Sonne ins Obere Vinschgau.
Begonnen hatte alles eigentlich 2018. Eine Gruppe engagierter Stilzer begann damit, sich um das bis dato nicht geregelte Bewässerungssystem des Ortes zu kümmern. Leitungen wurden verlegt und eine geregelte „Wosserroad“ eingeführt. Damit wurde in Zeiten des Klimawandels zweifellos ein großer Mehrwert für Stilfs geschaffen. Denn jetzt könnten die Bergwiesen wieder in Äcker ‚verwandelt‘ werden, wie sie einst früher hier existierten. „Uns wurde schlagartig bewusst, dass die Böden auch für „auswärtige“ Investoren interessant werden könnten, d.h. dass Flächen früher oder später in unserem Gemeindegebiet ‚herkömmlich‘ bewirtschaftet werden könnten“ sagt Ulli Platzer. Also mit der ganzen Palette hochgiftiger Chemikalien. Verena ergänzt: „Leider kann man genau solche Szenarien bereits in mehreren Dörfern und Tälern feststellen, mit samt ihren negativen Auswirkungen. Ganz abgesehen davon, dass bei uns dann die Grundstückspreise spekulativ in die Höhe getrieben würden. Genau das wollen wir nicht“. Noch ist Stilfs eine wahre Oase, von Pestiziden nahezu unberührt im chemieverseuchten Vinschgau. Durch die besondere Lage mit sehr vielen Sonnenstunden gedeiht fast alles: Basilikum, Tomaten, Gurken bis hin zu Weinanbau und das auf 1300m.
Verena Wopfner und Ulli Platzer
Beiden war bewusst, dass etwas getan werden musste um der drohenden Gefahr einer ‚chemischen Invasion‘ vorzubeugen. „Wir wussten bereits von Gleichgesinnten, wie dem pensionierten Volksschullehrer Roland Angerer und dem Querdenker Nicki Wallnöfer“ erzählt Verena. „So fingen die ersten Gespräche an, in denen es darum ging, wie wichtig für uns eine nachhaltige und gesunde Landwirtschaft ist und wie wir diese für Mensch und Tier erhalten können.“
Im Herbst 2018 wurde die ‚Leidenschaft für Grund und Boden‘ geweckt
Eine erste Kerngruppe von einigen Leuten formierte sich und organisierte informelle Treffen mit der Winzerin Hilde Van den Dries und Alexander Agethle, dem ‚sanften Bauern-Revoluzzer‘ aus Schleis. „Uns allen war bewusst, dass die Verwendung teils hochgiftiger „Pflanzenschutzmittel“ hier heroben ein riesiges Problem darstellen würde“ sagt Ulli Platzer, der Filialleiter einer Bank ist. Genau deshalb blieb man am Ball und ließ nicht ab, neue Ideen für Stilfs zu entwickeln. Im Herbst 2018 war es dann soweit: eine Gruppe mit dem programmatischen Titel „Leidenschaft für Grund und Boden“ konstituierte sich.
Alexander Agethle ermutigte die Stilzer zur ‚Leidenschaft‘.
Verena und Ulli ‚leben‘ eigentlich genau das schon, was sie in diese Gruppe an Ideen mit einbringen. Sie besitzen rund 1 ha Boden. Mit ihrer kleinen Schafherde bewirtschaften sie auch jene Teile, die sehr steil sind. Eine halbwegs ebene Fläche ist vorhanden, auf der in Zusammenarbeit mit Nicki Wallnöfer Getreide – selbstverständlich giftfrei – angebaut werden soll. Eine erste konkrete Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe.
Aber weshalb tun sich das eine Künstlerin und ein Bankdirektor an? „Weil unsere Vorfahren diese Flächen mit allergrößten Mühen gepflegt hatten“ sagt Ulli. „Es ist unsere Aufgabe und Verpflichtung, das weiter zu führen“. Im Sommer 2019 haben die beiden einen ersten Versuch mit Schwarzhafer auf einem ihrer Böden gestartet. Unter tatkräftiger Mithilfe des einzigen ‚Getreidebauern’ von Stilfs, Reinhold Pinggera.
Eine Idee als Initialzündung
Die Initiative hat innerhalb kürzester Zeit sehr viele junge Menschen in Stilfs aktiviert. Da sei ein neues soziales Gefüge im Entstehen, erzählt Verena. „In den letzten 20 Jahren ist eine leicht depressive Stimmung entstanden. Die jungen Mitstreiter wünschen sich wieder mehr Zusammenhalt und Wertschätzung untereinander. Wir machten also eine Art ‚Mind-Map‘: was wollen und wünschen sich eigentlich die Bauern? Wie schaut’s aus mit der Zusammenarbeit, mit der gegenseitigen Hilfeleistungen in kritischen Situationen?“
Ihr Atelier direkt bei der Stilfser Kirche ist seither zu einem regelrechten Treffpunkt ‚leidenschaftlicher’ Menschen geworden. „Wenn ich in der Werkstatt bin kommen immer wieder Leute vorbei. So kommt man ins Gespräch und wir hoangarten ein bisschen. Die Ergebnisse sind meist die Feststellung: wir haben es so schön hier, wir haben alles und es gibt nichts, worüber wir jammern könnten. Wir möchten den Schatz den wir haben schützen, uns aber auch weiterentwickeln und uns pro-aktiv an der Gestaltung unseres Lebensraumes beteiligen.“ Beste Voraussetzungen für einen Neustart in Stilfs.
Einen wahren ‚Schatz‘ erkennt Verena in der Erfahrung alter Bewohner von Stilfs. Diesen Schatz wollen sie und die Gruppenmitglieder heben, indem sie deren Wissen im Rahmen von vielen Interviews erfahren wollen. Und, ganz wichtig: „Wir werden die Ergebnisse dieser Interviews irgendwann im Kulturhaus vorstellen. Denn wir sind keine ‚Elitegruppe’. Bei uns soll jeder und jede willkommen, die mitmachen wollen.“
Der Grund meines ersten Besuches war es, einige der Aktivist_innen der ‚Leidenschaft für Grund und Boden‘ kennen zu lernen. Ich wollte mit eigenen Augen sehen und erfahren, was da vor sich geht. Und war total erstaunt, wie sich das ‚neue Leben‘ in diesem Ort entwickelt.
In meinen nächsten Blogposts werde ich einige Menschen vorstellen, die in Stilfs bereits mit ‚Leidenschaft für Grund und Boden‘ kämpfen. Sie alle verbindet eine fixe Idee: in ihrem Dorf zu bleiben und die vorhandenen Möglichkeiten und Ressourcen optimal zu nützen. Wer die Blogs nicht versäumen will sollte meinen Blog abonnieren. Einige stelle ich hier kurz vor. All diese Menschen haben eines gemeinsam: sie sind leidenschaftliche Stilzer.