irgendjemand muß doch ....
Alle zwei Jahre beginnen in der Popwelt plötzlich alle von Ulm zu reden. Als wenn im alten Münster dort mit einer Human Beatbox gepredigt würde. Aber halt, so was Ähnliches passiert ja schließlich, wenn Textor rappt und Quasi Modo scratcht – nur eben nicht im Münster und eher ohne Gott. Dafür mit Pop, Jazz, feinen Beats und den intelligentesten Wortverdrehungen der deutschen Sprache. Alle zwei Jahre gibt’s ein Album, jetzt ist das Fünfte erschienen: ???Irgendjemand muss doch“ … gratulieren: Alles Gute zum 10-jährigen Jubiläum, Jungs.
Kinderzimmer Productions sind Quasimodo (Sascha Klammt) und Textor (Henrik von Holtum). Nach ihrem selbstbetitelten Debüt, das kurz nach der Veröffentlichung aufgrund eines ungeklärten Stranglers-Samples vom Markt musste und ihrem zweiten Release "Im Auftrag ewiger Jugend und Glückseligkeit", legten sie im Frühjahr '99 mit Major-Rückendeckung ihr drittes Album "Die hohe Kunst der tiefen Schläge" vor.
Die gemeinsame Geschichte von Quasimodo und dem Textor geht zurück bis in Sandkastentage. Hip Hop traf die beiden 1986, und es entstand der Wunsch, selbst zu produzieren. Acht Jahre später wurden ihre Erfahrungen in Vinyl gegossen, und die erste Platte erschien. Die Reaktionen auf den zweiten Longplayer waren erstens positiv und sich zweitens in einem Punkt einig: Kinderzimmer klingen irgendwie anders als andere Hip Hop-Bands aus Deutschland.
Die Qualitäten der Productions tummeln sich nicht an der Oberfläche, springen einem nicht gleich ins Gesicht. Das tut Avantgarde nie. Sowohl Textor als auch Quasimnodo haben ein richtiges Leben im falschen oder eben andersherum. Während Sascha in einem Tonstudio gelernt hat und darauf ein Studium aufbaut, hat Henrick Jazz-E-Bass gelernt und studiert derzeit klassischen Kontrabass. Überflüssig zu sagen dass sich die jeweils unterschiedlichen Lebenswelten wechselseitig durchdringen.
Im Februar 2002 werfen sie ihr Viertes Werk auf den Markt. Wieder weit entfernt vom Massengeschmack, und wieder ein Sahnehäubchen im infantilen Räbber-Markt. Das wissen sie zum Glück selbst ("Die Charts sind ein Spiel das Dieter Bohlen gewinnt" - Textor) und liefern mit ihrer Musik den besten Beweis, warum einem das egal sein sollte, so lange es das Kinderzimmer gibt.
B I O G R A P H I E
Zu Beginn seiner Teeniezeit ging Thor Ehinger a.k.a Switcheroony oft zum Spielplatz, um heimlich zu rauchen, die geklauten Praline-Hefte zu studieren und seiner nölenden norwegischen Mutter aus dem Weg zu gehen. Die beiden, oft von einer herumlungernden Bande Viertklässler drangsalierten, blassen Kids, waren ihm schon öfter aufgefallen, doch er hatte keine Lust, sich aufzuspielen und ”den Kleinen” aus der Vierten Bescheid zu stoßen.
Henrik kam – gerade mal sechs Jahre alt – mit seinen Eltern frisch aus Schweden nach Ulm und sprach kaum Deutsch. Auch Sascha war – als echter Ulmer Schwabe – des (Hoch-) Deutschen kaum mächtig. Im Laufe der Jahre verlernte Henrik sein Schwedisch vorsichtshalber, während Sascha mittlerweile zwei Sprachen fließend spricht, Deutsch und Schwäbisch.
Irgendwie mochte Thor die selbstversunkene Art der beiden, die es trotz offensichtlicher Sprachprobleme schafften, sich zu verstehen. Er selbst konnte nicht behaupten, jemanden zu haben, der ihn wirklich verstand. Also ging er bei einer der üblichen nachmittäglichen Piesackereien dazwischen und war fortan so etwas wie der große Bruder und Beschützer der beiden. Trotz des Altersunterschieds trafen sich die drei öfter und schließlich war es Switcheroony, der die beiden zum HipHop brachte.
Henriks Mutter - Lena Möllerström – war Mitte/Ende der 60er eine gefeierte schwedische Jazzsängerin, sein Vater – Günther von Holtum – ein klassisch ausgebildeter Schlagzeuger, Musik war also im Hause von Holtum ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Oft saßen die drei Jungs vor der Holtumschen Plattensammlung und hörten sich Geschichten von Henriks Mutter und ihre alten Aufnahmen an. Doch eines Tages brachte Thor eine Kassette mit, die er von einem GI – Ulm war amerikanische Garnisonsstadt – bekommen hatte und die das Leben der drei nachhaltig verändern sollte.
In komisch geschwungenen Buchstaben - Switcheroony hütet das Tape noch heute wie seinen Augapfel – stand dort über einem gemalten Mikrofon der Schriftzug DJ Mike La Rock. Auf dem Tape befand sich eine Musik, die noch keiner der drei vorher gehört hatte und die drei weit aufgerissene Münder und verstörte Gesichter hervorrief: Rap!
Doch es sollten noch einige Jahre vergehen, bis man sich in Söflingen selbst an dieser Musik versuchte. Nach Saschas Konfirmation schafften sich die drei rudimentäres Equipment an und bekamen von Saschas Vater, einem maßgeblich an der Entwicklung von GPS beteiligten Ingenieur, der in seiner Freizeit an allem möglichen Elektronikschrott herumdokterte, eine von ihm restaurierte Bandmaschine geschenkt.
Schon bald bastelte man im Kinderzimmer an den ersten Tracks. Kurz darauf tauschte Thor das Mikrophon gegen eine Gitarre und gründete 'Morbus d'Art', die erste Ulmer Grindcore-Band.
Währenddessen tauschten Henrik und Sascha ihre bürgerlichen Namen gegen die Pseudonyme Textor und Quasi Modo, verkauften ihre Seele an den Teufel und schon acht Jahre später wurden die Erlebnisse der beiden in Vinyl gegossen und die erste Platte erschien. Diese musste allerdings flott wieder eingestampft werden, weil sich ein ungeklärtes Stranglers-Sample im bis heute oft gewünschten Kinderzimmer-Hit 'Back' verirrt hatte.
Um lange Geschichten kurz zu halten: Album zwei und drei folgten, wurden von der nicht gleichgeschalteten Öffentlichkeit für gut befunden und Kinderzimmer Productions boten neben ein, zwo anderen deutschen HipHop-Bands eine willkommene Alternative zum alles einnehmenden Bild minderjähriger fraternisierender Fubu-Zombies.
Auf dem mittlerweile vierten Kinderzimmer Productions-Album ‚Wir sind da wo oben ist‘ sind die drei Sandkastenfreunde von einst reunited.
Switcheroony, der mittlerweile in LA lebt und High End-Amps für Langhaarige baut, ist dem Ruf des Kinderzimmers gefolgt, hat sich in den Flieger gesetzt und mit ‚Der große Switcheroony‘ einen Track abgeliefert, der Schweinerock der miesesten Sorte in HipHop übersetzt und folglich garantiert jedes Dach abdeckt.
Switch war lange Zeit nicht mehr in Ulm gewesen, hatte dort aber deutliche Spuren hinterlassen. Vieles von der unbeschwert zotigen Art des Umgangs der Ulmer Musikjungs untereinander war auf ihn zurückzuführen und wenn man die Kinderzimmer-Alben der vergangenen Jahre aufmerksam studiert, lassen sich unzählige Spuren von Switchs rüder Knuffigkeit entdecken.
So auch heuer, wenn der Textor in seiner Ode an seinen Partner - 'Quasimodo lost control' - gesteht: "Ich sage ihm dass er dumm und häßlich ist jeden Tag, damit er weiß, dass ich ihn mag." Oder wenn Switch den beiden Kinderzimmern auf ihrer eigenen LP gehörig einen einschenkt, ihnen Unfähigkeit attestiert und in die Hand verspricht, sich bei seinem nächsten Deutschlandbesuch ein "ordentliches Feature rauszulassen." It's a satanic Jungs thing you wouldn't understand.
In der Beta-Version schon auf handverlesenen Tanzböden Europas getestet, ist ‚Mikrofonform‘ das Herzstück des neuen Albums. Um den reinen Bass zu destillieren, hat Quasi Modo die Geister von Magic Mike, King Tubby und Jah Shaka beschworen. Herausgekommen ist ein Stück, das – hat es einmal den Lautsprecher verlassen – zu fester Bass-Materie gerinnt und deinem Körper so wohltuend zusetzt, dass du dir wünscht, der leichte Schmerz in der Bauchgegend möge niemals aufhören. Darüber orakelt der Textor in atemberaubender Geschwindigkeit über die reine Mikrofonform - ohne Punkt und Komma, kein Hook. Nur Beats, Bass und das gesprochene Wort.
Auch eine schöne Kinderzimmer-Tradition ist der Posse-Cut, der bislang immer Ulms mehr-oder-weniger-finest featurte. Wie immer bleibt diesmal alles anders. Von der alten Crew ist nur Klaus of Zweimal das Gleiche-Fame übrig, der Textor legt selbstverständlich Hand an und auch Switcheroony gibt's dem Mikrophon männermäßig, weil ihm die Productions einen ordentlichen Batzen Geld haben zukommen lassen.
Die Entdeckung des Wintersemesters ist jedoch Tek Beton, ein 17-jähriger paranoider Ulmer Charakter mit einer Stimme, die man sich nicht besser hätte ausdenken können. Entweder hat der Kerl einen Pitch Shifter verschluckt oder er hat irgend etwas Gemeines mit seinen Stimmbändern angestellt, von dem wir besser nichts erfahren wollen.
Doch wer jetzt an ‚Wir sind da wo oben ist‘ als das ultimative schneller-härter-lauter-Statement der Productions denkt, hat sich gründlich verlaufen. Jeder Track sagt dem aufmerksamen Hörer: ”Wir können auch anders.” Etwa auf ‚Nie wieder gut‘, wenn der Textor in leicht melancholischem Croon-Sprech von einem Tag erzählt, an dem sich sein Körper morgens vorgenommen hat, sich bis zum Abend selbst zu demontieren und durch nichts von diesem Vorhaben abzubringen ist. Oder wenn man zu ‚Eine Frage von Stil‘, mit seinem sauber eingewobenen Swingding gar nicht anders kann, als die Hüften unbeholfen kreisen zu lassen und so zu tun, als wäre man direkt den 30ern entsprungen. Gar nicht zu sprechen von ... aber lassen wir das. Denn eigentlich spricht auch dieses Album der beiden jungen Männer aus Ulm wieder für sich selbst, wie schon seine drei Vorgänger. Wo HipHop hingeht und welchen Anteil Kinderzimmer Productions daran haben werden, vermag ich nicht zu prognostizieren. Nur eines ist sicher: HipHop in Deutschland wäre ohne Kinderzimmer Productions merkwürdig/unangenehm!
Markus Hablizel