Barfuß lesen
Manchmal werden gesellschaftliche Trends einfach so hingenommen, ohne ihnen auf den Grund zu gehen. So gehen die Besucherzahlen von Erwachsenen in den Bibliotheken des Kontinents generell zurück. Manche verweisen in der Ursachenforschung auf die geburtenschwachen Jahrgänge, welche jetzt geschlechtsreif und folglich lese-impotent geworden sind, andere auf die ausufernde Digitalisierung und deren Lehrmeisterin die Bürokratie.Die kanadische Heroin Cerridwen kämpft gegen diese Bürokratie und hat dadurch den größten denkbaren Kampf aufgenommen. Früher oder später gerät sie bei diesem Kampf auch in die Fänge der örtlichen Stadtbibliothek.
Annemarie Cerridwen hat nämlich nichts anderes vor, als überall barfuß zu gehen. Die Verkehrsbetriebe in Montreal und Ottawa nehmen sie aus hygienischen Gründen nicht mit, in Vancouver wird ihr das Barfuß-Betreten der Stadtbibliothek untersagt. Erst als ein Anwalt ein Stress-Gutachten verfasst, wonach ihr Körper rebelliert, wenn er nicht an den Sohlen nackt sein darf, lässt man sie notgedrungenermaßen zwischen die heiligen Regale.
Dieser Vorfall könnte auch in Österreich den rätselhaften Rückgang der Leser-Zahlen erklären. Vermutlich würde die Kundschaft in Scharen in die Bibliotheken strömen, wenn sie es barfuß dürfte.
Freilich sind die Bibliotheken oft so weit von den Alltagsrouten entlegen, dass man nicht einmal in Schuhen hinein findet, geschweige denn barfuß. Der Österreicher liest nämlich mit den Füssen, was von den Bibliotheken und ihrer Lust zur Bürokratie immer noch ignoriert wird.