"Spiele keine Note zuviel" - das ist das selbstgewählte, künstlerische Motto von Ketil Bjornstad. Und das spätestens seit Mitte der 90er Jahre zum vielbeachteten Markenzeichen dieses Homme des Lettres ist. Denn der 1952 in Oslo geborene Bjornstad ist nicht nur Pianist, Komponist und Improvisator. sondern Norwegens großer Schriftsteller und Erzäler, bisweilen sogar Bestsellerautor.
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DIE ZEIT zu besuch bei KETIL BJØRNSTAD
Fjordrhythmen
Schlicht sind Wohn- und Esszimmer eingerichtet – weiße Wände, großformatige Bilder, dunkle Möbel, geschmackvoll und gleichzeitig dezent. Ketil Bjørnstad bietet Kaffee und Leitungswasser an, entschuldigt sich, kein Essen vorbereitet zu haben: Er müsse am nächsten Tag zu einer Preisverleihung nach Frankreich und sei "etwas in Aufbruchsstimmung".
Das Haus des norwegischen Autors und Musikers liegt direkt am Oslofjord, einige Taximinuten entfernt vom Zentrum der norwegischen Hauptstadt. Hinter einer Schallschutzmauer, die den Lärm der nach Süden führenden Schnellstraße abschirmt, tut sich unvermutet ein kleines Paradies auf. Ein geräumiges, einladendes Holzhaus mit Garten und Anlegestelle bietet dem Autor ein Refugium zum Schreiben. In dieser Atmosphäre, mit Blick auf den noch nebligen Fjord, lässt es sich reden – ohne Musik im Hintergrund, ohne störendes Telefon, ganz entspannt.
In seinem Heimatland ist Bjørnstad Kult. In Deutschland ist er, obwohl hier nur ein Bruchteil seiner mehr als zwanzig Werke übersetzt ist, immerhin der wohl bekannteste norwegische Autor. Und möglicherweise gibt es niemanden sonst, der in Büchern und Romanbiografien die Seele Norwegens so spiegelt wie Ketil Bjørnstad.
Dennoch – nichts liegt ihm ferner als eine romantisierende Sicht auf seine Heimat: "Im Buch Ballade in g-Moll etwa, das ich über das Leben des Komponisten Edvard Grieg schrieb, geht es ganz stark um Norwegen, um die Identität dieses Landes. Aber dabei ist keine Romantik: Grieg ist einfach eine der wenigen, außergewöhnlichen Persönlichkeiten, die norwegisches Selbstbewusstsein in die Welt trugen." Auch der Blick von dort aufs europäische Ganze, Leitmotiv bereits in Villa Europa, spielt in Bjørnstads Werken stets eine Rolle. Herkunft und Ursprung, Flucht und Migration – ebenfalls Kernthemen in vielen seiner Bücher.
Bjørnstad erzählt, freundlich und gesprächig. Er erklärt, sein 2006 auf Deutsch erschienenes Buch Vindings Spiel sei nur der erste Band einer Trilogie gewesen, deren zweiter Teil das nun Folgende Der Fluß darstelle – ein abschließender dritter Teil erscheine im Frühjahr in Norwegen.
Lange Jahre hatte Bjørnstad sich gescheut, seine Erfahrungen als Musiker in seinen Büchern zu thematisieren: "Ich wollte Musik und Literatur auseinanderhalten, damit es nach außen nicht wirkt, als verzettelte ich mich!" Inzwischen, mit über fünfzig, sagt er, sehe er das entspannter. Und so nimmt die Figur des Titelhelden, die des Pianisten Aksel Vinding, unverkennbar autobiografische Züge an.
Bjørnstads andere Karriere als Musiker währt bereits ebenso lange wie jene als Autor. Ausgebildet als klassischer Pianist, hatte er sich früh für den Jazz begeistert, war, vielen seiner norwegischen Musikerkollegen gleich, beim Münchner Label ECM gelandet, bei dem er seit 1993 Platten veröffentlicht. Im vergangenen Jahr erschienen dort zwei Alben von ihm: The Light. Songs of Love and Fear" mit der Mezzo-Sopranistin Randi Stene und, wortspielerisch betitelt, Life in Leipzig im Duo mit dem norwegischen Gitarristen Terje Rypdal.
Der Fluß beginnt spannend. Man stolpert in dieses Buch hinein wie in einen guten Krimi – und doch ist alles dichter, intensiver. Ein dramatisches Yacht-Unglück in sommerlicher Meeresfrische setzt den Auftakt, aus dem sich die Verstrickung des Protagonisten Aksel Vinding in die nun einsetzende Handlung entwickelt. Nach und nach entblättern und entblößen sich in Folge immer tiefer liegende Schichten der agierenden Personen.
Auch in seinen hervorragend recherchierten biografischen Auseinandersetzungen – mit Edvard Grieg, mit Edvard Munch, Norwegens berühmtem Maler (Edvard Munch. Die Geschichte seines Lebens) oder, unlängst, mit der Künstlerin Oda Krogh (Oda) – gelingt es Bjørnstad, historische Fakten mit einem, durch Rücksprache mit Verwandten der Portraitierten erschlossenen, persönlichen Blickwinkel in eine romanhafte Handlung zu verweben.
Stoff "aus dem echten Leben" zu verarbeiten, sei jedoch eine vergleichsweise komplexe Aufgabe: "Ich muss mich ja strikt an Tatsachen halten. Bei einem fiktionalen Text hingegen", erläutert Bjørnstad, "bin ich als Autor der einzig Verantwortliche für den Inhalt. Das macht es sehr viel leichter." Derart befreit, gelingen ihm ausgefeilte Charaktere in Romanen wie Erlings Fall, Der Tanz des Lebens und dem bereits erwähnten Villa Europa mit nahezu kriminologischer Liebe zur Detailbeobachtung: Lebensnah geschilderte Menschen, die philosophische Ideen und politische Überzeugungen hegen, Tiefen und Untiefen der Seele offenbaren.
Und auch das Meer, die See als Urgewalt, die Flüsse als den Planeten durchziehende Lebensadern, sind stets wiederkehrendes Thema des am Fjordufer lebenden Künstlers, dokumentiert in CDs wie Water Stories, The Sea oder The River – und nicht zuletzt auch im Buchtitel Der Fluß. Eine Marotte? Wohl mehr als das. "Ja, das Wasser… Speziell das Meer," philosophiert Bjørnstad, "besitzt so viele unterschiedliche rhythmische Aspekte. Das Meer bietet immer wieder neue Eindrücke, ist niemals statisch und zeigt sich in so vielen Variationen. Und das Meer verändert etwas in den Menschen …".
Bjornstad hat zudem rund 20 Bücher veröffentlicht, neben Romanbiographien (u.a. über den Komponisten Edward Grieg und den Maler Edvard Munch) Essays und zuletzt den Roman "Erlings Fall". Außerdem ist er einer der ganz wenigen Jazz-Musiker, die eine profunde Ausbildung als Klassik-Musiker genossen hat. Bjornstad perfektionierte dabei in den Musikzentren London, Paris und Oslo sein klassisches Vokabular, so dass er schon mit 16 Jahren als Solisten debütieren konnte: 1969 spielte er in mit dem Philharmonischen Orchester von Oslo das teuflisch schwere 3. Klavierkonzert von Bartók. Es war zugleich das Jahr, in dem Bjornstad zum Jazz verführt werden sollte, von Miles Davis' epochalem Meisterwerk "In A Silent Way." Vier Jahre lang arbeitete Bjornstad von nun an ausschließlich am Jazz und nahm 1973 sein erstes Album "Abnet" auf, mit Arild Andersen, Jon Christensen und Jon Eberson. 1974 erschien dann der Schriftsteller Bjornstad erstmals auf der Bildfläche, als er den Gedichtband "Alene Ut" veröffentlichte und somit den Grundstein legte für eine bis heute anhaltende Beschäftigung von Literatur und Musik. Mit dem 79er Album "Leve Patagonia" (Long Live Patagonia) erinnerte er an Hans Jäger und dessen ausgelassenes Künstlerleben; 1981 komponierte er die Rock-Oper "Trettiårskrigen" (Der Dreißigjährige Krieg) und zwei Alben auf Texte von Knut Hamsun und Harry Maartinson, beides Träger des Nobelpreises für Literatur. Seit der Gründung des Quartetts "The Sea" mit Terje Rypdal, Jon Christensen und David Darling gehört Bjornstad endgültig zur ECM-Familie, mit der er mittlerweile fünf Alben herausgebracht hat. "Meine Theorie ist, dass künstlerische Energie oft von einer einzigen Person ausgeht", erläutert Bjornstad seine Beziehung zu ECM und den Label-Chef Manfred Eicher. "Etwa in den 50ern, als Ingmar Bergmann in München war. Ähnlich war es mit Manfred Eicher und seinen ersten ECM-Aufnahmen in Oslo. Seine Anwesenheit war extrem stimulierend für eine ganze Generation junger norwegischer Musiker." Ähnlich der Musikerfreunde- und Kollegen Jan Garbarek und Terje Rypdal ist Bjornstad zu einem Wanderer zwischen den Stilen geworden, der den Momenten der Schönheit und der Stille nachspürt. Zuhören ist das besonders in den beiden Duo-Alben mit dem Cellisten David Darling. Und nicht zuletzt in dem akustischen Ritterschlag vom Regisseur Jean-Luc Godard, der für zwei seiner Filme Bjornstad-Klänge auswählte und die natürlich auf der Godard-Hommage-Box "Histoire(s) du Cinema" vertreten sind. Nach dem Auftrag des norwegischen Königshauses, ein Oratorium für den Jahreswechsel 1999 / 2000 zu komponieren, knüpft Bjornstad jetzt mit dem aktuellen Album "Grace" an die bisherigen Klassiker wie "Water Stories" und "The River" und damit an die Feier der Reduktion an. Mit u.a. Arild Andersen, Trilok Gurtu und der Sängerin Anneli Drecker vertonte er diesmal Texte des elisabethanischen Dichters John Donne.
Am längsten und hellsten Tag des Jahres im Norden, dem 23. Juni 2004, den wir Norweger „Sankthanfsaften“ nennen, saß ich mit Wulf Müller und Yngve Næss von Universal Music vor dem Sult (zu Deutsch: Hunger), einem bekannten Restaurant mit Barbetrieb, ganz in der Nähe des alten Rainbow-Studios in Grünerløkka in Oslo. An diesem Tag hatte ich den ersten Teil der geplanten „Rainbow Sessions“ aufgenommen, mich von dem alten, geliebten Tonstudio verabschiedet und war nun gespannt darauf, wie wohl das neue Studio sein würde. Das Piano-Soloprojekt „The Rainbow Sessions“ (eine Box mit drei CDs) war in meinem Kopf schon so gut wie fertig, so daß ich mich fragte, was ich als nächstes größeres Projekt in Angriff nehmen sollte. „Warum machst du nicht eine Aufnahme im klassischen Trio-Format?“, fragte Wulf plötzlich. „Eine solche Platte hast du noch nie gemacht.“ Da hatte er allerdings Recht. Bislang hatte ich es vermieden, im Trio zu spielen. Vielleicht weil es eine so große Herausforderung ist und eventuell auch weil es einen als Bandleader dazu verleiten kann, auf einem solchen Album die ganze Zeit über zu viele Noten zu spielen. Der Gedanke an ein Piano-Trio erschien mir erschreckend, da die Melodie bei diesem Konzept von Pianisten oft als Ausrede dazu benutzt wird, ornamental zu spielen und endlos zu improvisieren, ohne der Melodie selbst oder den eigentlichen Ansprüchen und der Struktur einer Komposition größere Beachtung zu schenken. „Aber du könntest immer noch melodisch denken“, wand Wulf auf seine ungezwungene, freundliche Art ein. Und dieser Satz leuchtete mir vollkommen ein. Yngve nickte. Auch das war wichtig, da er mich wirklich gut kennt.
So kamen also die „Floating“-Sessions zustande. Noch im selben Sommer zog Jan Erik Kongshaug in sein neues Rainbow-Studio um, einen wundervollen Raum mit einer unglaublichen Akustik, der meine kühnsten Erwartungen bei weitem übertraf und sogar besser war als das alte Studio. Es war anregend zu sehen, wie der stets bescheidene Jan Erik in seinem 60. Lebensjahr immer noch in jeder Hinsicht nach Perfektion strebte. Vor über 20 Jahren hatte er den „Rainbow Sound“ geschaffen und machte Aufnahmen mit hervorragenden Produzenten und Künstlern aus der ganzen Welt, die alle unterschiedliche Bedürfnisse und ästhetische Ansätze hatten. Ein paar Monate nach dem Einzug in die neuen Räumlichkeiten konnte er einen seiner Träume verwirklichen: für das neue Studio wurde ein neuer Steinway-Flügel gekauft, ein D-Modell. Mir wurde die Ehre zuteil, mit ihm die Steinway-Fabrik in Hammburg zu besuchen und ihm beim Auswählen des richtigen Instruments zu helfen. Ich beendete „The Rainbow Sessions“ auf diesem neuen Instrument und schmiedete zur gleichen Zeit Pläne für die Trio-Aufnahmen, die ein paar Monate später stattfinden sollten. Die Brillanz eines neuen Steinways ist etwas ganz besonderes. Die Qualität eines guten Flügels macht einem Pianisten seine eigenen Fähigkeiten besser bewusst, und Jan Erik vermittelt einem, als eine Art stiller Koproduzent, in seiner intelligenten und diskreten Weise, ob man gut spielt oder nicht. Tatsächlich hat er durch seine Arbeitsweise sehr viel mehr Aufnahmen produziert, als ihm gutgeschrieben wurde.
Ein Traum würde für mich wahr, als Marilyn Mazur und Palle Danielson mir die Zugabe gaben, an den Trio-Aufnahmen mitzuwirken. Marilyn hat eine ganz eigene große musikalische Persönlichkeit. Weil sie nicht mit den herkömmlichen Jazzbesen spielt, die eine Klanglandschaft sehr verdichten können, kreiert sie eine Menge Freiraum für ihre Mitmusiker. Und natürlich bringt sie ihre eigene künstlerische Intelligenz und Energie in die Musik ein. Mit seinem unglaublich warmen Klang und seiner künstlerischen Weisheit ist Palle Danielsson seit den ersten Aufnahmen, die er mit Cornelis Vreeswijk [der in Holland geborene und 1987 verstorbene Vreeswijk galt als einer der größten Songwriter und Poeten Schwedens] machte, und natürlich aufgrund seiner frühen Jazzaktivitäten in Schweden einer meiner Helden. Er spielte bei den Sessions den „kleinen“ Kontrabaß, mit dem er in der „Belonging“-Periode so berühmt wurde, und Marilyn brachte all die wunderbaren Glocken, Becken und unterschiedlichen Perkussionsinstrumente mit, die aus aller Welt, vornehmlich aber aus Asien stammen. Palle kannte ich bereits, aber Marilyn war ich noch nie zuvor persönlich begegnet. Es ist eine seltsame Sache, sich morgens über einen Kaffee hinweg das erste Mal zu grüßen und dann in ein Studio zu gehen und noch vor dem Mittagessen drei Stücke einzuspielen. Als der erste Aufnahmetag beendet war, hatten wir bereits mehr als die Hälfte des Albums im Kasten. Und nach dem zweiten Tag waren die Aufnahmen komplett fertig. Es war wie wenn man jemanden kennen lernt und sofort spürt, daß man eine starke Freundschaft geschlossen hat.
Die Musik selbst ermöglichte uns dies. Sie kam zu uns – schwebend… floating
(KETIL BJÖRNSTAD)