Indiepop irgendwo zwischen Hängematte und Schlafzimmer. Aber immer eines: wunderschön!
Als am 11. Juli 1963 ein Wäscherei-Lieferwagen durch den Norden Südafrikas fuhr, ahnte die Welt nicht, dass heute hier Geschichte geschrieben werden würde. Doch dem Lieferwagen entstieg eine Schwadron weißer Polizisten, sie suchten nach einem Ort namens "Ivon", an dem geheime Treffen stattfinden würden und von dem ein kleiner Junge berichtet hatte. Der Junge hatte sich leider nicht geirrt, der mysteriöse Ort entpuppte sich als "Rivonia", ein Vorort im Norden Johannesburgs, dem auf dem Ortschild vier Buchstaben abhandengekommen waren. 19 Mitglieder des ANC wurden verhaftet, und der Name Rivonia steht bis heute in Südafrika für einen politischen Prozess, in dem neben anderen auch Nelson Mandela verurteilt wurde.
Rivonia ist auch das Viertel, in dem - viel später - Cheri MacNeil, Gründerin der Indie-Band Dear Reader, aufwuchs. Und es ist ebenfalls der Titel ihres neuen, vierten Albums, auf dem sie mit ihrer Band Dear Reader unter anderem die Geschichte jenes kleinen Jungen erzählt, der aus Versehen zum Tippgeber in einem der größten politischen Prozesse Südafrikas wurde. Nein, Cheri MacNeil ist wahrlich keine, die Angst hat vor großen Themen. Und es gibt wohl auch kaum eine zweite Sängerin, die so swingende, so anregende und knackige Musik aus so nachdenklichen Stoffen weben kann. Denn Südafrika, das Land mit den ein Dutzend Amtssprachen und Hunderten Völkern, diese Heimat beschäftigt MacNeil seit Anfang ihrer musikalischen Karriere (auch wenn sie inzwischen häufig in Berlin und Leipzig zu Gast ist). Als Angehörige der britischstämmigen weißen Minderheit in Südafrika, irgendwie zwischen Baum und Borke geboren, eingezwängt zwischen Idealismus und Apartheid, wuchs MacNeil in den 90ern in ein neues Land hinein, in dem der Mandela der Rivonia-Prozesse plötzlich Staatspräsident war.
MacNeil gründete mit ihrem Freund Darryl Torr Anfang der 2000er Jahre eine Band namens Harris Tweed (aus der 2008 Dear Reader wurde, nachdem der Stoffproduzent Harris Tweed keine Band neben sich dulden wollte), und entwickelte eine eigenwillige Art politischen Indie-Pops. Zu bohrenden Fragen nach Heimat, nach Gesellschaft und Lebenssituationen mixt sie einen irrwitzigen Musikcocktail aus swingendem Barjazz, hypnotischen Gesangsschleifen, leichter Folk-Schwermut und verschlungenen Rhythmen. Das erinnert ein wenig an PJ Harvey, manchmal sogar (dank MacNeils vertrackt-kräftigem Organ) an Tori Amos. Es ist ein ständig sich verändernder, ansteckender Sound, der derart spritzig von inzwischen vier Alben wie auch (vor allem) von jeder Bühne perlt, dass man gerne die sehr ernst gemeinten Textzeilen vergessen möchte. Aber genau das macht die Musik von Dear Reader aus, die jene Schere im Kopf, wie sie sich bei Cheri MacNeil und vielen ihrer Landsleute festgesetzt hat, ganz bewusst für eine ganz erstaunliche Musik nutzt. Denn wenn es eine Kraft gibt, welche die südafrikanische Kultur seit Jahrhunderten zusammen hält, dann die Musik.
Cherilyn MacNeil - piano, guitar, voice
Darryl Torr - bass, keys, loop station, voice
Michael Wright - drums, voice