Der in Berlin lebende Pianist Nils Frahm hat sich mit seinen einzigartig intimen Klavieraufnahmen einen Namen gemacht, wobei seine Studioaufnahmen streng genommen nur ein Bruchteil dessen sind, was man von einem Nils Frahm Live Konzert erwarten kann. Frahms Herz liegt nämlich in der Improvisation, in der Magie des Moments, in dem seine Finger, inspiriert vom Raum und Publikum, neue Kompositionen kreieren, die nur sehr lose auf vertrauten Melodien basieren.
„Was ich am meisten daran liebe vor Menschen zu spielen hat etwas mit einer besten Art von Energieaustausch zu tun. Die Aufmerksamkeit und Wertschätzung meines Publikums koppelt zurück in mein Spiel. Es scheint wahrhaftig ein ständiges Geben und Nehmen zwischen Interpret und Zuhörer stattzufinden, was mir bewusst macht wie sehr ich eigentlich von meinem Publikum abhängig bin. Und da das Publikum jede Nacht unterschiedlich ist, wird auch die Musik jedes Mal anders gespielt. Jeder Raum in dem ich gespielt habe hat seine eigene Magie und seinen eigenen Geist.“ – Nils Frahm
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"Ich liebte meinen Klavierlehrer", schwärmt Pianist, Komponist und Produzent Nils Frahm im Interview mit dem Londoner Traditionsblatt The Economist. Wenngleich man seine Vergangenheit nicht überinterpretieren sollte: Am Fundament für Frahms beachtliche Karriere hat Nahum Brodski, seines Zeichens Schüler des letzten Tschaikowsky-Schülers, sicherlich einen maßgeblichen Anteil.
Seinen Musikgeschmack habe Brodskis russischer Hintergrund sehr inspiriert, weiß Nils Frahm. Die beiden lernen sich Ende der Neunziger kennen, treffen sich für sieben Jahre bis zu viermal pro Woche zum Unterricht. "Ich musste so viel üben, dass es fast schmerzhaft war. Aber das war natürlich gut so, andernfalls hätte ich nie so hart an mir gearbeitet."
Einen weiteren wichtigen Einfluss verdankt Nils Frahm seinem Vater, der ihm mit 15 Jahren Portisheads Meilenstein "Dummy" vorspielt und ihn vorher mit "obskuren Jazz- und Klassik-Platten" prägt. Im selben Alter nimmt der 1982er-Jahrgang mit einem Kassettenrekorder bereits erste Stücke auf.
Später unternimmt er Ausflüge in die elektronische Musik, die ihn so sehr fasziniert, dass er das konventionelle Klavierstück zeitweise aus den Augen verliert. 2005 erscheint seine erste Platte "Streichelfisch" über AtelierMusik, der Zweitling "Electric Piano" folgt 2008. Im selben Jahr gründet Nils Frahm in Berlin sein eigenes Studio.
Mit der EP "Wintermusik" findet er 2009 schließlich zurück zum Soloklavier – und zu einer langfristigen Labelheimat: Seine Platten erscheinen fortan bei Erased Tapes. Im "Schmelztiegel für innovative und einfallsreiche Musiker", wie Gründer Robert Rath seine Plattenfirma gegenüber newsecho.de bezeichnet, blüht Frahms Produktivität noch weiter auf. Noch im selben Jahr erscheint die LP "The Bells", zwei weitere EPs sowie das viel beachtete Album "Felt" (2011) folgen.
Das junge Londoner Indie-Label betreut neben Nils Frahm auch das isländische Ausnahmetalent Ólafur Arnalds, mit dem es 2012 zur Kollabo kommt: Gemeinsam nehmen die beiden Komponisten die "Stare"-EP auf. "Das war eine komplette Einbahnstraße des Glücks. Ganz im Ernst, das war total entspannt. (...) Das fiel uns einfach so ... auf die Festplatte", blickt Frahm im Interview mit mittelstern.de auf die Zusammenarbeit zurück.
Keine acht Monate später beschenkt der Berliner die Fans zu seinem 30. Geburtstag. Das intime Piano-Album "Screws" erscheint Anfang Dezember physisch wie auch als Free-Download, aufgrund eines gebrochenen Daumens spielt er die Platte mit neun Fingern ein.
Ein Experiment stellt auch der Nachfolger "Spaces" (November 2013) dar: Die neuen Stücke wachsen durch Improvisation vor Publikum, Nils Frahm nimmt sie auf ingesamt 30 Konzerten auf. "Ich setze mich ständig mit der Frage auseinander: Besteht die Möglichkeit, Liveaufnahmen aus der Konzertsituation zu isolieren, sie aus dem Kontext zu ziehen, um sie dann auf ein Medium zu pressen, das sich die Leute anhören können, wann immer sie wollen?", erklärt er die Herangehensweise im US-amerikanischen Interview-Magazine.
Zu dem Zeitpunkt hat sich Nils Frahm längst als international gefeierter Künstler etabliert, eine Tour durch Nordamerika stellt da kein bemerkenswertes Novum mehr dar. Dabei beglückt er mit seinen Melodien nicht nur die Zuhörer, sondern auch sich selbst: "Selbst die traurigste Passage kann mich glücklich machen, wenn ich realisiere, dass ich gerade etwas Schönes geschaffen habe."
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„Spaces“ ist eine Ode an die Freuden des Livespiels. Es bringt Frahms Liebe für Experimentierfreudigkeit zum Ausdruck und beantwortet gleichzeitig die Frage seiner Fans nach einer Platte, die Ihr Erlebnis eines Nils Frahm Konzerts getreu widerspiegelt. Entgegen den Konventionen eines traditionellen Livealbums, wurde „Spaces“ über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg mit Hilfe von unterschiedlichsten Werkzeugen wie tragbaren Tonbandgeräten und Kassetten-Decks an verschiedenen Orten aufgenommen. Diese Momente wurden später in seinem Berliner Durton Studio zu einer Art Collage an Feldaufnahmen zusammengesetzt, die anstatt eines einzigen Livekonzerts einen ganzen Lebensabschnitt markieren. Die Aufnahmen beinhalten einige überraschende Momente, wie zum Beispiel das Hämmern von einem Paar Klobürsten auf den Saiten des Flügels, mit dem Frahm einen fast schon Dub-artigen Klang erzeugt. Mit der Entscheidung selbst Takes zu verwenden, in denen jemand hustet oder sogar ein Handy klingelt, zeigt Frahm wie sein Publikum ein wesentlicher Bestandteil jedes Auftritts ist.
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SPACES.
Erfrischend unperfektes Livealbum mit Klavier und Klobürste.
Qualität setzt sich mitunter doch durch, das belegt das Beispiel Nils Frahm auf erfreuliche Art und Weise. Dass die Zuschauer nicht nur hierzulande, sondern auch auf der Insel und in Nord- und Südamerika zu seinen Konzerten pilgern, kann bei derart schüchterner Musik schließlich nur an Frahms Sensibilität für große Gefühle liegen. Die verpackt der Wahlberliner irgendwo zwischen Neo-Klassik, Ambient, experimentellem Pop und Electro.
Die Liveplatte "Spaces" hält eine Handvoll unveröffentlichter Stücke bereit und holt einige altbekannte in ein neues Zuhause. Die Vorstellung beginnt kurios: "An Aborted Beginning" erinnert in seinem ungestümen Attitüde an Portisheads "Machine Gun", endet aprupt und lässt das vereinzelt applaudierende Publikum ein wenig verwirrt zurück. Nicht der letzte Beweis dafür, welch ungeschönten Einblick dieser Mitschnitt gewährt.
Mit dem vorab veröffentlichten "Says" gelingt Frahm anschließend ein Meisterwerk, das selbst in seinem beeindruckenden Oeuvre seinesgleichen sucht. Für eine gefühlte Ewigkeit spannt der progressive Ambient-Track mit einem einzigen Loop auf die Folter, lässt dabei aber nie den leisesten Zweifel zu, dass es sich dabei nur um die langsam schwindende Ruhe vor dem Sturm handelt. Nach sechs Minuten reißt einen schließlich der ersehnte Harmoniewechsel mit sich in die Fluten aufgestauter Emotionen.
Gerade recht kommt danach die obligatorische Verschnaufpause "Said And Done" (2009), in der stoische Ton- und Akkord-Wiederholungen zu Tagträumen verleiten, die gegen Ende in fast schon resignative Melancholie münden. Noch behutsamer wirkt das "Felt"-Stück "Familiar" (2011), dem die Live-Aufnahme mehr Luft zum Atmen und damit eine neue Dimension beschert.
Als Klavier-Virtuose zeigt sich Nils Frahm bei seiner "Improvisation For Coughs" und im geradliningen "Hammers", während er bei "Toilet Brushes" seinen Flügel tatsächlich mit Klobürsten traktiert. "For" und "Peter" widmen sich dagegen dem elektronischen Ambient, ehe das großartige "Over There, It's Raining" daran erinnert, wie Frahm es eben auch kann: einfach gestrickt, schlicht als gedämpftes Pianostück vertont, aber dennoch überaus wirksam.
Über zwei Jahre sammelte der Ausnahmekünstler Material für dieses erste Livealbum, das er schließlich zu einem erfrischend unperfekten Gesamtwerk zusammenbastelte. "Spaces" bestätigt den Eindruck, der sich über Jahre immer weiter in den Vordergrund drängte: Was Nils Frahm in seinem Durton Studio ausbrütet, wird ausnahmslos zu Gold.