Vier Streicher, zwei Konzertflügel – eine Stimme. In besonderer Formation gastiert Gianna
Nannini an besonderen Orten und singt Preziosen aus ihrem Repertoire: Hits wie «I Maschi»,
«Latin Lover», «Profumo». Und Perlen, nach denen auch sie selber zunächst tauchen musste:
vergessene, verborgene Schätze wie «Oh Marinaio», «Contaminata», «Una Luce». Und als
besondere Surprise den Titel «Amandoti», den der italienische Kult-Songwriter Giovanni Lindo
Ferretti einst für die legendenumwobene Rockband CCCP schrieb und den Gianna in ihrer
Version völlig neu erfindet.
Auf ihrer Europatournee von 2004 wird Nannini vom Pianisten und Klangzauberer Christian Lohr und dem Solis String Quartet aus Neapel begleitet, einem in Rock, Pop und Hip Hop versierten klassischen Streichquartett von Weltruf, das bereits mit internationalen Grössen von Andreas Vollenweider über Noa bis Luciano Pavarotti gearbeitet
hat.
Ein akustischer Abend mit Italiens profiliertester Frauenstimme – elektrische Gitarren und
elektronische Gerätschaften bleiben weitgehend draussen. Das Hauptereignis ist Nanninis
Gesang. Nie genoss er so viel Raum, nie stand er so im Zentrum. Das Programm «Perle»
kreist mit poetisch eigensinniger Instrumentierung um «la voce», um Stimme und Stimmung.
Die verwegene Gianna Nannini, von der Presse oft genug als «Rockröhre» und
«Reibeisenstimme» betitelt, auf Theater- und Opernbühnen zwischen Brokat, Samt und
Plüsch? An prunkvollen Stätten statt an garstigen Openairfestivals? In feinen Sälen statt in
öden Sporthallen? Differenziert leise statt laut rockend? Das mag überraschen. Aber
Überraschung ist seit jeher ihr Programm.
Nie war die Frau angepasst, früh sprengte sie die Fesseln des toskanischen Renaissance-
Städtchens Siena, stets war sie ihrer Zeit einen tänzelnden Schritt voraus, immer blieb sie
kämpferisch – für die Sache der Frau, für die Umwelt, für die Unterdrückten. Legendär ihr
Engagement für Greenpeace und Amnesty International. Zuletzt initiierte die Nimmermüde im
Sommer 2003 eine humanitäre Expedition nach Bagdad.
Musikalisch sorgte Nannini 2002 mit «Aria» für Aufhorchen, einem futuristischen, elektronisch
verfremdeten Taumel zwischen Techno und Tarantella, Tradition und Trance. Die Melodie
all’italiana als Electro-Rock-Gewitter, wie es nie zuvor überm Land niedergegangen war und
mit dem sie selbst der italienischen Rock-Avantgarde die Altmeisterin zeigte. Das war
unerhört.
Umso mehr werden nun viele «Perle» für eine Kehrtwende halten. Ist es aber nicht. Gianna
versprüht dieselbe Power, nur akzentuiert sie die Dynamik vom Wispern bis zum Schrei, vom
Pianissimo bis zum Fortissimo – mit Stimme und Pianoforte als Hauptinstrumenten.
Im Aufbruch liegt auch eine Rückkehr: Der Flügel ist ihr vertraut, denn sie ist klassisch
geschult, schloss 1974 das Klavierstudium am Konservatorium Luigi Boccherini in Lucca ab,
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studierte danach in Mailand Komposition und Philosophie. Ihre ersten beiden LPs, «Gianna
Nannini» und «Una Radura», zeigten sie 1976 und 1977 als Songwriterin am Piano. Zu diesen
Wurzeln findet «La Giannissima» jetzt zurück. Nur reifer. Mit noch mehr Lust, noch mehr
Leidenschaft – mit mehr Lebenserfahrung. Und mit einer Stimme, deren Säuseln und
Schmettern, deren Schmeicheln und Aufbegehren, deren Flüstern und Flehen noch nie so
eindringlich klangen.
Ein Bruch ist das nicht. Eher eine logische Fortsetzung. Selbst der vordergründige Kontrast
zu «Aria» ist keiner. «Gianna erzielt dieselbe Wirkung mit völlig gegensätzlichen Mitteln», sagt
Koproduzent Christian Lohr. «Sie ist eine, die an die Grenze geht. In die eine oder andere
Richtung.» Und so revolutionär ihr sinnlich lärmiges Album «Aria» war, so revolutionär ist die
schiere Stille, die «Perle» ausmacht. In einer Zeit, da in der Rock- und Popmusik zumeist viel
Lärm um nichts gemacht wird, ist es eine Geste der Auflehnung, Ruhe herrschen zu lassen.
Gianna kann sich das leisten, ihre Songs, die alten wie die neuen, sind so gut, dass sie kein
Brimborium drumherum brauchen. «Gianna ist mehr denn je echt, pur – sie selber», sagt
Lohr.
Der Übergang von «Aria» zu «Perle» ergab sich von selbst. Während der Proben wurde eines
Abends nach einer herzhaften Spaghettata noch ein bisschen improvisiert, und zwar
vierhändig am Flügel. Daraus entstand eine akustische Version des «Ragazzo dell’Europa»,
welche die Fans und die Kritik an sämtlichen 71 Konzerten der «Aria»-Tournee zu Stürmen
der Begeisterung mitreissen sollte. Das Publikum war es also, das Nannini und Lohr
überzeugte, mehr aus dieser Konstellation zu machen: ein ganzes Konzert, ein ganzes
Projekt daraus zu entwickeln.
Seit je hatte Gianna die Hörerschaft gerührt und tief bewegt, wenn sie jeweils Lieder allein
am Klavier in ihre Auftritte einstreute. Schon vor Jahren hegte sie die Idee, irgendwann
einmal ein Album einzuspielen, dessen Hauptinstrument das Piano sein würde. Nun war die
Zeit reif.
Das Berückende an dem Projekt ist die Stimme. Auf «Perle», der Platte, die Ende Januar
begleitend zur Tour erscheint, singt Gianna Nannini so gut wie nie. Warum? «Es war die
Magie des Ortes», sagt Gianna und meint Lohrs traumhaft gelegenes Studio im
niederbayerischen Städtchen Abensberg. Und das Thermalwasser im nahen Bad Gögging,
das der Stimme gut getan habe. Das Studio liegt in einem riesigen Gewölberaum, dessen
Decke von sechs steinernen Säulen getragen wird. Draussen plätschert die Abens vorbei,
Enten schwimmen, Vögel zwitschern, Bäume wogen im Abendwind. Hier konnte Gianna ihre
Stimme schwingen lassen. «Es tönt schon fast kitschig, aber wenn wir an lauen
Sommerabenden bei Kerzenlicht und offenem Fenster aufnahmen, das war die pure
Natürlichkeit und Unschuld», sagt Lohr. Geholfen haben mag, dass analog auf einer Vielzahl
historischer Geräte, mit Röhrenverstärkern und Uralt-Mikrofonen aufgenommen wurde.
«Aber ich bin sicher, dass wir die Intimität auch live hinkriegen.»
Eine Zeile aus «Contaminata» kann als Kernsatz des neuen Werks gelten: «Anima ribelle che
si libera», eine rebellische Seele, die sich befreit. Darum geht es in «Perle», um Rebellion,
Befreiiung, Seele. Eine Frau, die seit jeher rebelliert, Tabus bricht, sich um gesellschaftliche
Normen foutiert, gegen moralische Gesetze verstösst und gegen musikalische sowieso, diese
Frau befreit sich jetzt vollends, indem sie ihre Seele entblösst, ihr Innerstes offenbart. Die
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Songs, in früheren Arrangements teils hinter Lärmwällen verborgen, sind nackt und erzeugen
eine Nähe, die betörend, für Augenblicke beinahe beängstigend ist.
Das erotische Knistern von «Profumo» wird noch verstärkt, der Ausbruch und die
Selbstfindung in «California» noch besser nachvollziehbar. Die Flüchtende wird in jenem Lied
aus dem Jahr 1979 von der eigenen Identität eingeholt, sie kehrt heim und stellt sich der
Realität. Auch dies ein Sinnbild für «Perle». In glasklaren, fettfreien, leichten Versionen sind
Giannas Canzoni hier nicht stripped to the bone – sondern stripped to the soul. Aufs
Wesentliche reduziert.
Eine Musik fern von allen Konventionen. Krud und doch elegant. Zu hören ist keine einzige
Gitarre, nicht einmal als Sample. Dafür der Konzertflügel – Yamaha stellte eines seiner
besten Instrumente zur Verfügung –, ein altes Klavier, Wurlitzer und Hammond B3, ein
Streichquartett, ein ganzes Sinfonieorchester, der 80-stimmige Chor Città di Milano gar.
Alles unverfälscht. «Best of, Unplugged», hiesse das im heutigen Jargon des Musikbusiness,
das immer gleich alles schubladisiert haben will. Aber die Bezeichnung trifft nicht, worum es
hier geht. Auch kein klassisches und kein «Pop-goes-classic»-Album ist «Perle», wenngleich ein
Titel als Menuett arrangiert ist, kontrapunktische Streicher ertönen, Mozart anklingt.
Nein, «Perle» ist etwas unverschämt Neues – und damit wieder voll und ganz Gianna Nannini.
«Zu Beginn meiner Karriere vor 29 Jahren wäre ich für eine solche Platte nicht reif gewesen»,
sagt Nannini. Die Vermutung liegt nahe, dass Gianna Nannini in doppelter Hinsicht das Album
ihres Lebens eingespielt hat. Eine reinigende Bilanz vieler bewegter Jahre – und vielleicht das
Beste, bestimmt das Berührendste, was sie je gemacht hat.