Eigentlich hätte der Tod schon längstens gerne zugepackt. Doch bei Gardi Hutters resoluter Schneiderin hat er kein leichtes Spiel. Quicklebendig wuselt die korpulente Dame zwischen bunten Stoffballen und frei schwebenden Prinzessinnenkleidchen durch ihr Atelier. Sie kokettiert vor dem grossen Spiegel, ringt mit Scheren und Nadeln, raucht hier noch ein Zigarettchen, trinkt da noch ein Schlückchen Aquavit und versucht emsig, die Schicksalsfäden in ihrem multifunktionalen Nähkästchen neu zu ordnen. So spielt sie um ihr Leben. Unendlich kraftvoll und unendlich zart. Das Publikum erwartet ein zauberhaftes Bühnenbild mit einer abenteuerlichen Schneiderwerkstatt, in der Gardi Hutter die Fäden ihres Lebens bunt zusammenspinnt. Mit «Die Schneiderin» erschaffen Gardi Hutter und Michael Vogel (Mitglied des Theaterkollektivs Familie Flöz) ein Theaterstück über die Endlichkeit des Seins und die Unendlichkeit des Spiels. Außerhalb der Zeit.
Die clownesken Frauenfiguren der 57-jährigen St. Galler Schauspielerin und Autorin Gardi Hutter haben eine globale Ausstrahlung. Rund, versponnen und zerzaust wie sie sind, werden sie in Brasilien oder Russland ebenso verstanden und geliebt wie hier bei uns. Ihre Programme wie «Jeanne d'ArPpo – Die tapfere Hanna» oder «Die Souffleuse», ihre Auftritte beim Zirkus Knie, im Film «Tell» und im Fernsehen sind vielen in fröhlicher Erinnerung. Seit 30 Jahren steht Gardi Hutter auf der Bühne. Für ihre Filme, Bücher und Bühnenprogramme hat sie zahlreiche Preise bekommen. So wurde sie etwa mit dem Wilhelmshavener Knurrhahn (1987), dem Hans Reinhart-
Ring (1990), dem St. Galler Kulturpreis (1995) oder dem Schweizer Kleinkunstpreis (2005) ausgezeichnet. «Die Schneiderin» ist Hutters viertes Soloprogramm. Über die
Entstehung dieses Bühnenprogramms ist im Dezember 2011 der Dokumentarfilm «Gardi – Die Unendlichkeit des Spiels» erschienen
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Schneiderin Gardi Hutter zaubert aus dem Nähkästchen
TAGES ANZEIGER 26.01.2011
Kurz & kritisch Clown-Kunst Winterthur, Casinotheater
Sie spricht wie Donald Duck auf LSD, ihre Frisur fusioniert Tina Turner mit einem Wischmob, im Gesicht leuchtet dunkelrot die Knollennase: Bei Gardi Hutters bauchigbusiger Bühnenfigur ist alles beim Alten. Nur den Beruf hat sie mal wieder gewechselt. Die erste und weltberühmteste Clownin der Schweiz gibt in ihrem neuen Programm, das jetzt zur Deutschschweizer Premiere kam, eine Schneiderin, und zwar eine mit zwei Vögeln. Einem echten, der im Käfig zwischen geschneiderten Kleidern wohnt, und einem geistigen. Der zwitschert in ihrem Kopf herum und sorgt dafür, dass die tollpatschige Näherin dauernd den Faden verliert, ihre Auftragsarbeiten zum Tanz bittet und mit der Handhabung der Gerätschaft ihre liebe Mühe hat. Das ist publikumswirksam, denn es weckt bei vielen Erinnerungen ans Schulfach Handarbeit. Für die andern zaubert die Hutter der Gegenwart so einiges aus ihrem überdimensionierten Nähkästchen: Da paaren sich Fadenspulen, und Scheren werden zu Kanonen. Spätestens als die quirlige Schneiderin kopfüber in einen Zuber stürzt und sich dort eine Schere ins Hirn rammt, wirds sogar metaphysisch. Und wechselt von zeitlos zu zeitgenössisch: In Form einer tollen Videoprojektion erscheint der Schneiderin ihre eigene, vergnügt im Jenseits umherfliegende Seele; das letzte Kleid ist genäht. Da helfen auch geschnorrte Zigaretten aus der ersten Reihe nichts mehr: Der Schneidertisch wird zur Gruft. Eine Stoffbahn dient als Segel für die letzte Fahrt, und am Schluss schimmert digital die Milchstrasse aus dem Ankleidespiegel. Zurück bleibt ein Hauch Wehmut, denn obwohl Hutter ihrer Figur und ihren einfachen Mitteln treu bleibt, ist die «Schneiderin» alles andere als das staubige Nostalgieprogramm einer Pionierin. Hutters vitale Bühnenpräsenz und die Fülle von Ideen (Regie: Michael Vogel) sind die Basis für fantasievolles, glücklich machendes Profihandwerk. Und dass sich Hutters Figur mit allen Mitteln gegen den Tod wehrt, ist hoffentlich ein gutes Omen. Dafür nämlich, dass diese grossartige Clownin noch lange nicht ans Abtreten denkt.
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femina ridens
Gardi Hutter e Hanna
Laudatio di Charlotte Gschwandtner
Kann man eine Laudatio auf Gardi Hutter besser als mit ihren eigenen Worten beginnen?.
»Nach der Vorstellung: begeisterte Zuschauer, leuchtende Augen, Komplimente … und dann, am Schluss, die Frage: Machen Sie auch richtiges Theater?
Manchmal stell ich mich dumm, frage, oh, was ist denn richtiges Theater. Mach ich falsches? Ich weiß, Sprechtheater wird als richtiges Theater angesehen und allgemein ist richtige Kunst umso richtiger, je weniger sie verstanden wird. Wir Clowns sind ja nur lustig, Possenreißer, Unterhalter – keine richtigen Schauspieler. Dabei ist der große Unterschied doch vor allem, dass wir unsere eigenen Autoren und Figur-Erfinder sind und nicht nur interpretieren, was andere für uns geschrieben haben.«
Gardi Hutter arbeitet als Clown oder – wie sie sich selbst bezeichnet – als Clownerin. Aber ihr Clown hat wenig mit dem heutigen Bild des Clowns zu tun, sie ist kein Zirkusclown oder unterhält die Kinder auf einem Geburtstagsfest. Sie ist ein Theaterclown. Auf diese Weise reiht sich Gardi Hutter in eine lange Tradition von Akteuren verschiedener Generationen ein.
Der englische Begriff »clown« ist alt, so wie auch seine Kunst. Die ersten schriftlichen Quellen des Begriffes lassen sich ab den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts finden. Man nimmt an, dass er skandinavische Wurzeln hat. Sein semantisches Feld reicht von »Tölpel/Lump« bis hin zu »Klumpen/Batzen/Beule«. Heute kennen wir Clowns vor allem aus dem elisabethanischen Theater und den Dramen Shakespeares.
Die Kunst Gardi Hutters folgt also den Spuren einer langen, sehr alten Tradition. Eine reiche und vielfältige Tradition, die sich in vielen Filiationen und Variationen niederschlägt, zu denen etwa die Comici dell’arte, Buffoni oder italienischen Zanni gehören. »Zanni« stammt von dem Kosenamen von Giovanni: Wir sehen also, wie sich die Figur Gardi Hutters, Hanna – Kosename von Johanna = Giovanna – bereits mit ihrem Namen in diese Tradition einfügt.
Diese Schauspieler – Akteure – machten ein anderes Theater als das, was heute als »richtiges« Theater angesehen wird. Es wird von Figuren bestimmt und gemacht, die nicht auf eine möglichst naturgetreue Nachahmung menschlicher Individuen und Charaktere aus sind. Sie beziehen sich nicht auf die alltägliche Realität, sondern erscheinen auf der Bühne aus einer anderen Welt: Diese Figuren entspringen den Erfahrungen unzähliger Generationen, uralten Mythen und Legenden, Erzählungen, die so alt sind wie die Menschheit selbst.
So ist auch Hanna, die Figur Gardi Hutters, eine Kunsterfindung: aus der Praxis heraus entstanden und in unendlich vielem Ausprobieren und Proben geformt. Sie trägt das uralte Wissen der Vorfahren sowie die Vorstellungswelten unserer Zeit in sich.
Diese Figur oder Maske ist immer dieselbe, erscheint jedoch stets anders, verwandelt, hat also eine Vielzahl von Rollen zur Verfügung: Hanna begegnet uns als Waschfrau – die sich dann in die Heldin Johanna von Orleans verwandelt –, als Souffleuse, Schneiderin, selbst als Tierchen, eine Maus.
Hanna ist leicht an ihrer Nase, einem berühmten Clownsattribut, und an ihren ungeordneten Haaren zu erkennen. Außerdem hat Hanna einen riesigen Bauch, eine außergewöhnliche Ausstülpung – man erinnere sich an das semantische Feld des Terminus Clown –, die sie an die Seite von Masken wie die des Zanni Pulcinella stellt und die deutlich macht, dass es sich hier nicht um einen natürlichen Körper handelt. Ihr Körper ist ein artifizieller und gleichzeitig ein offener Leib in steter Beziehung zur Welt: In den Ausstülpungen der Masken sitzt eine ihnen eigentümliche Kraft. Der Bauch von Pulcinella weist unter anderem auf seinen atavistischen Hunger hin. Auch für Hanna ist der Hunger so existenziell, dass sie – als Maus – ihr ganzes Leben vor einer Mausefalle verbringt, in der ein Stück Käse aufgehängt ist. Sie liebt diesen Käse so sehr, dass sie ihm ein Liebesständchen singt.
Dieser schwere und wie angeschwollene Leib Hannas bestimmt ihre Art, sich zu bewegen, manchmal wird ihr der Bauch sogar zum Hindernis. Von einem Moment auf den anderen kann dieser Körper jedoch eine überraschende Leichtigkeit und Gewandtheit annehmen und Hanna fegt mit beeindruckender Schnelligkeit über die Bühne, nur um kurz darauf wieder zu stolpern. Ihre unvermeidlichen und unzähligen Stürze stellen die Regeln der Beherrschung von Körper und Raum auf den Kopf.
Hanna nutzt selten Wortsprache, sondern macht sich, begleitet von Gestikulationen, mit einer eigenen Sprache verständlich, einer Art Grammelot, ein Sprechen, das aus Geräuschen, Lautmalereien und Jargons besteht, eine sehr alte, raffinierte Technik der Schauspieler. Es ist eine Sprache, die unverständlich allen verständlich ist. Mit ihrer Sprache bringt Hanna die Normen von Logos und Ratio ins Wanken, stellt Mehrdeutigkeiten her und stellt die Hierarchie zwischen Körper und Geist in Frage.
Das Theater Gardi Hutters ist voller spielerischer Wechsel zwischen Subjekten und Objekten: Die englische Zeitung wird zum Teebeutel, der Wäscheberg verwandelt sich in Gegner oder Komplize, der Mäuseschwanz in Heiligenschein, Waffe, Brautschleppe. Die festen Grenzen zwischen Subjekt, Objekt, zwischen lebendiger und toter Materie lösen sich auf, die Dinge der Welt sind nicht mehr stabil und hierarchisch geordnet. Während sie in ihrer eigenen Welt lebt, schafft es Hanna, die hegemoniale Ordnung unserer Welt aufs Spiel zu setzen.
Nicht nur der Leib Hannas ist von einer tiefen Ambivalenz gekennzeichnet: Ihre Einfalt und Plumpheit verwandeln ihre alltäglichen Handlungen und ihre Umgebung in Schlachtfelder, aber zugleich schafft sie es jedes Mal, sich mit einem findigen Einfall aus der Misere zu retten: In ihrem Wäschekorb feststeckend, befreit sich die Waschfrau schlussendlich, indem sie in ihn auch ihre Beine und Füße hineinprügelt. Hanna ist fröhlich und verzweifelt zugleich: Mit viel Schläue hat sich die Souffleuse ihr Leben in dem winzig kleinen Raum unter der Bühne des Theaters eingerichtet – sogar eine wunderbare Aussicht auf das Meer hat sie sich gebaut! – und mit genauso viel Selbstmitleid lamentiert sie über ihre elendige Lage. Sie zeigt sich dem Papiermännchen gegenüber, der sie um sein Leben anfleht, barmherzig, nur um ihm kurz darauf den Lebensfaden durchzuschneiden.
Hanna ist gleichzeitig gut und grausam, schlau und dumm, behände und lethargisch, mutig und ängstlich, alles zusammen.
Diese Form von Theater erzählt auf spielerische und sinnliche Art und Weise und in offener Kommunikation mit dem Publikum von den fundamentalen Bedürfnissen, von den Verhältnissen und existenziellen Ängsten der Menschen – Hunger, Arbeit, Gewalt, Isolation, Hoffnung –, um endlich über die größte aller Ängste zu kommunizieren: den Tod.
Der Tod ist konstantes Moment in den Theaterstücken Gardi Hutters und in den Abenteuern Hannas: die Urne mit der Asche des geliebten Beweinten als Gesprächspartner, der (erfolglose) Versuch der Souffleuse, sich mit einem unechten Theaterschwert, das sie zwischen den Requisiten gefunden hat, das Leben zu nehmen, der hartnäckige Kampf der Schneiderin, dem bevorstehenden Tod zu entgehen (noch eine letzte Zigarette, eine letzte Mahlzeit, eine letzte Liebesgeschichte!). Auf der anderen Seite übersteht Hanna Missgeschicke, die wir Menschen nur schwerlich überleben würden. Und regelmäßig am Ende einer Geschichte stirbt Hanna. Sie stirbt, nur um dann in der nächsten Aufführung höchstlebendig wiederzukehren.
So wie viele ihrer Kollegen von Harlekin bis Pulcinella trägt und vereinigt Hanna in sich die Gegensätze, die in unserer Welt häufig nicht vereinbar sind, bis hin zum größten, dem für alle unvermeidbaren Gegensatz, denjenigen von Leben und Tod. Diese Figuren sind dazu befähigt, weil sie nicht aus unserer Welt stammen, sondern mit uns von einer anderen Warte aus über das Elend unserer Welt kommunizieren. Durch unser erleichtertes Lachen relativieren sich jene Ängste für jenen magischen Moment der Vorstellung, die vom Schauspieler, seiner Figur und dem Publikum gemeinsam ge- und erlebt wird.
Ich habe gesagt, Gardi Hutter folge den Spuren einer langen, sehr alten Tradition. Aber im selben Maße hinterlässt sie auf ihrem Weg eigene, unauslöschliche Spuren. Ein Verdienst Gardi Hutters ist es, eine eigene Figur – noch dazu eine weibliche Figur, gleichsam eine »zagna«, was alles andere als selbstverständlich ist – gesucht, gefunden und erschaffen zu haben: eine Figur in der alten Tradition der Comici, die seit über 30 Jahren ihr Publikum unterhält, zum Lachen, Weinen, Wundern, Staunen bringt.
»In vielen Interviews werde ich gefragt, ob es mir mehr um Inhalte oder um Unterhaltung geht. Das ist doch absurd. Das gehört doch zusammen. Das macht doch Schauspieler erst zu Schauspielern, und nicht zu Rednern. Theater ist sinnliches, körperliches, symbolisches, magisches, energetisches, bewegendes, spirituelles, lustvolles, lustiges, katalysatorisches Erzählen von sich stetig verändernden kollektiven Vorstellungen – also von alten und neuen Mythen.«