Wenn Frank Zappa den Jazz im Ganzen schon vor drei Jahrzehnten wegen seiner funny smells ins Gerede brachte, so ist dieses muntere Vorurteil heute insbesondere gegenüber Big Bands angebracht. Leider tut das Gros der Big Bands nicht das Geringste dagegen, mit diesem Ressentiment aufzuräumen, sondern pendelt zwischen Verwaltung und Vergewaltigung des Jazz. Nur ganz wenige Großformationen des Jazz beschreiten neue Wege oder berufen sich auf jene Traditionen, die die Big Band einmal zu einem maßgeblichen Klangkörper des Jazz gemacht haben. Die vor fünf Jahren gegründete Jazz Big Band Graz (JBBG) kann hingegen beide Tugenden in sich vereinen. In ihrem genialen Schlagzeuger John Hollenbeck hat sie einen Meister gefunden, der sie mit adäquaten Stücken ausstattet.
Der New Yorker Drummer und Komponist John Hollenbeck ist einer der vielseitigsten Jazzmusiker der Gegenwart. An der Seite von Philosophen des melodischen Jazz wie Fred Hersch, Bob Brookmeyer oder Kenny Wheeler entwickelte er ein weiches, flüssiges Spiel von federnder Dynamik, das eine unaufdringlich federnde Rhythmik stets mit sensibler Klanggestaltung verband. Mit David Krakauer und Frank London stärkte er die Klezmer-Avantgarde, mit Pablo Ziegler pflegte er den Tango Nuevo. Mit seinem Claudia Quintet schloss er an die Leistungen der innovativen New Yorker Downtown Scene an und mit Meredith Monk kreuzte er das Grenzland zwischen Jazz und Neuer Musik. Innerhalb der Intuition-Familie stärkte er Florian Ross und Henning Sieverts ebenso wirkungsvoll wie effizient den Rücken. All diese Errungenschaften fließen nun in seinen Kompositionen auf „Joys & Desires“ zusammen, die er mit JBBG unter der Leitung von Heinrich von Kalnein und Horst Michael Schaffer umsetzt.
Hollenbeck gerät ins Schwärmen, wenn er von der Grazer Big Band spricht. „Die Grazer Band ist zunächst einmal eine ganz normale Big Band mit Bläsern und einer Rhythmusgruppe, aber die Musiker dieser Band sind so offen für jede Art von Musik, daß sie eben doch keine ganz normale Big Band mehr sind. Man kann mit ihnen vielerlei neue Territorien betreten. Über die Jahre haben sie einen ganz unverkennbaren Sound entfaltet, sind auf dem besten Weg zu einer ähnlichen Institution in Europa wie das Vienna Art Orchestra.“ Man kann sich Hollenbecks Stücke aus ganz unterschiedlichen Perspektiven annähern, kann in Klängen baden und entspannen, aber auch mit den Ohren zupacken, sich festkrallen und an seiner verwegenen Architektur laben. Hollenbecks Zugang zu seiner eigenen Musik ist so entspannt wie die Musik selbst. „Von Big Bands wird meist eine Art intellektuelle Musik erwartet. Entweder agiert sie im Umfeld des Swings oder völlig frei. Dazwischen gibt es wenige Spielräume. Natürlich steckt auch meine Musik voller intellektueller Details, die mühevoll ausformuliert sind, aber diese werden nicht in den Vordergrund geschoben. Ich will eine entspannte Musik schaffen, die man auch völlig unvorbereitet hören kann.“
Mit herkömmlichem Big Band-Jazz hat „Joys & Desires“ wenig gemein. Statt kompakt geblasener Kraftmeierei spielt Hollenbeck feinfühlig mit Stimmen und Stimmungen, Sphären und Atmosphären. Seine Stücke klingen nicht wie dick aufgetragene Blasmusik, sondern wie liebevoll getupfte Klangmalerei. Dabei geht es ihm weniger um individuelle Selbstverwirklichung der Beteiligten als um den größtmöglichen Zauber eines Stückes Musik, den Hollenbeck kompromißlos umsetzt. Gerade in den wuchtigsten Stellen vergißt man zuweilen ganz, daß man eine Big Band und nicht etwa eine verzerrte Gitarre oder einen elektronischen Sound hört. Die Musik muß für sich selbst sprechen, nur dann treten auch ihre Interpreten hinter ihr hervor. „Es gibt jede Menge Improvisation in meiner Musik, aber ich will keinen Raum für Solos schaffen“, so Hollenbeck. „Sicher kann sich ein Solo mal ergeben, wenn es dem logischen Fluß der Musik nicht zuwiderläuft. Aber die Musik ist grundsätzlich nicht so angelegt. Ich habe versucht, mit wenigen Stimmen zu arbeiten. Normalerweise schreibe ich ja für kleinere Besetzungen. Insofern wollte ich auch die Big Band wie eine kleinere Gruppe klingen lassen. Ich habe maximal drei Stimmen übereinander gelegt, die man klar voneinander unterscheiden kann. Texturen sind mir wichtiger als die Improvisationen.“ In Widerspruch mit dem Freiheitsbegriff des Jazz setzt sich Hollenbeck dennoch nicht. Auch er ist ein Vertreter höchster Freiheit der Gestaltung, doch setzt diese eben nicht erst im Moment der Aufführung ein. Er macht sich frei von kategorischen Vorgaben und strebt eine Metamusik an, wie sie zum Beispiel auch ein Gil Evans verfocht.
Mit seinem engen Vertrauten, dem Sänger und Elektroniker Theo Bleckman an seiner Seite, stellt er Formen, nicht Traditionen oder Schulen in den Vordergrund. „Meine Musik ist zunächst einmal frei von Stil oder Genre. Es ist Musik, die für sich selbst spricht und dem Hörer die Freiheit gibt, eigene Entdeckungen zu machen. Ich muß sowieso davon ausgehen, daß es keine zwei Ohren gibt, die Musik auf die gleiche Weise hören. Die Stücke selbst sind zum größten Teil komponiert, aber ich schaffe Flächen, in denen die Musiker tun können, was sie wollen. Ich muß ihnen das nicht sagen. Oft arbeite ich in Kontexten, in denen ich Musikern sage, gestaltet einen Teil nach eurem Dafürhalten, aber dann halten sie sich doch ganz genau an meine Vorgaben. Den Musikern von JBBG brauche ich gar nichts vorzugeben. Sie finden diese freien Flächen selbst heraus und gestalten sie von sich aus mit einem hohen Maß von Freiheit.“
„Joys & Desires“ schlägt auch in einer anderen Hinsicht eine Brücke. Hollenbeck ist seit langem auf beiden Seiten des Atlantiks aktiv. Er trägt den Geist New Yorks nach Europa und das neue europäische Formbewußtsein zurück nach Amerika. Mit JBBG findet er die optimale Schnittmenge aus europäischem und amerikanischem Jazz. Kaum ein anderer Musiker unserer Zeit verwischt die Demarkationslinien zwischen dem Mutterland des Jazz und der Heimat der meisten Jazz-Instrumente so überzeugend und nachhaltig wie Hollenbeck. Doch mit seiner Ästhetik zollt er nur seinen persönlichen Erfahrungen Tribut. „Früher gab es sicher große Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Musikern. Aber heute haben fast alle europäischen Musiker entweder in Amerika oder bei Amerikanern studiert und die meisten amerikanischen Musiker leben entweder in Europa oder sind ständig in Europa unterwegs. Die Unterschiede sind daher kaum hörbar. Sicher mache ich die Erfahrung, daß eine amerikanische Big Band eine Komposition viel schneller vom Blatt spielt als eine europäische Formation. Aber das spielerische Level ist absolut ausgeglichen.“
John Hollenbeck und JBBG fällt es nicht schwer, Big Band Afficionados in Ekstase zu versetzen. Ihre eigentliche Leistung besteht jedoch darin, daß sie auch jene unschwer auf ihre Seite ziehen, ja mehr noch, mit ihrer Klangmagie unheilbar infizieren, die den Glauben an die Kraft und Schönheit der Big Band längst aufgegeben haben.