Ähnlich wie John Franklin - Protagonist in Sten Nadolnys Meisterwerk "Die Entdeckung der Langsamkeit" - ebenjene als menschenfreundliches Prinzip erkannte und in seinem Leben walten ließ, so gaben sich bislang auch Bohren & Der Club Of Gore Zeit ihres Bestehens dem Luxus hin, ihre Musik in etwas langsameren Tempi darzureichen als andere. Mag sich die Welt um den Bohrenkosmos herum auch immer schneller drehen, die Moden, Hypes und technischen Quantensprünge sich einander in immer kürzeren Intervallen den Garaus machen - Bohren und sein Club entziehen sich ganz elegant der allgemeinen Hast und musizieren so, wie sie es für richtig achten.
Wunderbar konsequent und geradezu verbohrt forschen sie dabei seit 1993 unermüdlich in ihrem Probekeller. Sie beantworten die Frage "wie langsam können wir eigentlich noch?" für sich und ihre Fangemeinde immer wieder neu mit einem freudigen "noch viel langsamer". Von durchschnittlich 44 BpM auf Sunset Mission haben sie sich bis zur letzten Veröffentlichung "Black Earth" sukzessive in Bereiche gewagt, die bis dato schlicht unbekannt waren.
Mit "Geisterfaust" tasten sich Bohren & Der Club Of Gore in Terrain vor, in dem die Teilchen sich gar nicht mehr bewegen, die Musikatome so zäh und langsam fließen, dass sie zunächst gar nicht als Musik wahrnehmbar sind. So beginnt der erste Finger der Faust (Zeigefinger) seine 20.29 Minuten mit so untergründigen wie subtilen Klängen, dass beim ersten Hören bereits ein bis zwei Minuten sanft und leicht bedrohlich dahinschwinden, ehe klar ist, dass man sich ja schon mittenmang in der Musik befindet. Irgenwann kommt dann der erste "Ton" des E-Pianos, noch viel später ein erstes Lebenszeichen des Schlagzeugs.
Im weiteren Verlauf von "Geisterfaust" steigert sich das Tempo nach und nach um ca. 0,7 %, bis beim kleinen Finger dann tatsächlich das längst verloren geglaubte und doch so liebgewonnene Bohren-Saxophon aus der schwarzen Versenkung erwacht. Dies ist exakt der Moment, an dem man versteht, dass wirkliche Erfüllung manchmal nur nach längeren Phasen der schrecklichen Entbehrung stattfindet. Dieser Moment des stillen Glücks kann dann auch nur sehr kurz sein. Ca. 2:30 nämlich, um genau zu sein. Und dann - das Nichts, die unendliche Stille. Die CD ist zu Ende. Oder sind wir schon tot ?
"Geisterfaust" ist auch für Bohren-Fans ein ziemlich verstörendes Konzeptalbum, schwere Kost im Vergleich zu früheren Werken. Bohren und co. brechen Strukturen auf oder verlangsamen sie so nachhaltig, dass sie nicht mehr erkenntlich sind. Sie verbannen das bereits erwähnte Sax so lange wie möglich. Und auch die Arbeit an den Tasten nehmen sie nur in extremer Zeitlupe und ganz peu à peu auf. Die seltenen Schlagzeugsprenksel wirken durch ihr allzu überaschendes Auftreten schwer und gewalttätig. Auch hier befinden wir uns nur etwa ein Iota vor der totalen Auflösung entfernt.
Letztlich ist "Geisterfaust" Grundlagenforschung in Sachen Musik. Denn: Musik ist schließlich auch nur Physik, nicht wahr? Und so sind die Jazzwissenschaftler von Bohren weiterhin auf ihrem ganz privaten Highway To Hell, und den fahren sie unbeirrt weiter, bis sie dort ankommen, wo sie ankommen müssen. Und dort angekommen werden wir und sie vermutlich merken, dass die Hölle eben alles andere als laut und heiß ist, sondern ganz ruhig. Und dass sich einfach gar nichts dort bewegt. Weit dorthin kann es nach "Geisterfaust" für den Club jedenfalls nicht mehr sein.