"Definitionen missfallen mir grundsätzlich", gesteht Ludovico Einaudi, "Aber ,Minimalist' ist eine Bezeichnung, die für Eleganz und Offenheit steht. Also würde ich lieber ,Minimalist' genannt werden, als irgendetwas sonst."
Der italienische Komponist und Pianist Ludovico Einaudi ist nicht nur Minimalist, sondern auch Meister der Atmosphäre. Ruhig und melancholisch, mit kräftigen Klangfarben und zarten Harmonien, verbreiten sich seine romantischen Melodien langsam und sicher quer über den Globus. In Italien und Großbritannien ist der einstige Student Luciano Berios ein häufiger Chartgast, im Rest der Welt kennt man seine preisgekrönten Soundtracks.
Ein Star aus gutem Hause
Wenn ihm Zeit bleibt, dann fährt Ludovico Einaudi in die Toskana. Dort hat seine Familie ein Weingut, unweit von dem, das der Familie seines Vorbilds und Mentors Luciano Berio gehört. Solche Refugien sind ihm viel wert, denn zum einem bergen sie inspirierende Erinnerungen an angeregte Unterhaltungen und philosophische Momente in sich. Auf der anderen Seite braucht Ludovico Einaudi die Ruhe und Abgeschiedenheit, um sich auf seine eigenen Klangerforschungen zu konzentrieren. Immer wieder geht er in Klausur, mal für drei Monate in seiner Mailänder Wohnung, wo die Kompositionen für sein Decca-Debüt „Una Mattina“ (2005) entstanden, mal in der landschaftlichen Abgeschiedenheit oder auch im Kleinen unterwegs auf Reisen, wenn er sich auf das Hotelzimmer zurückzieht, um seine Ideen wie für „Nightbook“ zu notieren.
Denn Trubel ist er gewohnt. Geboren 1955 in Turin, wuchs Ludovico Einaudi zwischen Politikern und Künstlern, Dichtern, Philosophen und Journalisten auf. Sein Großvater Luigi war Italiens erster Staatschef nach dem zweiten Weltkrieg. Das von der Familie gegründete Verlagshaus Einaudi gehört zu den wichtigen Fixpunkten des literarischen Lebens im Lande. Als Knabe traf Ludovico auf Schriftsteller wie Italo Calvino, der zu den Freuden des Hauses gehörte, und an den Wänden der elterlichen Wohnung hingen Bilder von Popart-Künstlern, bevor der Rest der Welt Andy Warhol entdeckte. Der kulturelle Freigeist gehört zur familiären Stimmung und so neigte sich auch der Sohn des Hauses der Kunst zu, allerdings nicht der geschriebenen, sondern der klingenden. Einaudis erste Passion war die Gitarre, sie überzeugte ihn davon, dass er Musik studieren musste. Er schrieb sich am Verdi-Konservatorium in Mailand ein und gelangte über ein Stipendium an das Tanglewood Music Center in Massachusetts. Dort traf er auf zeitgenössische Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio, den er dann als Assistent bei mehreren Musik- und Theaterproduktionen über die Schulter blicken konnte.
Der Spezialist für Stimmungen
Ludovico Einaudi zog andere Schlüsse aus seinen Erfahrungen als viele seiner Mitschüler. Denn er interessierte sich weniger für komplexe Klangarchitekturen, sondern für das Kleine, für den schlichten, wirkungsvollen, intensiven Moment. Und er begann, seinen eigenen Weg zu gehen. Erste Erfolge feierte er als Filmkomponist. Einaudi schrieb 1988 die Musik für Andrea De Carlos „Das große Geld“, in den kommenden Jahren folgte ein weiteres Dutzend ähnlicher Projekte, mit denen er sich seinen Ruf als Spezialist für Stimmungen und eindrucksvolle Atmosphären erarbeitete. Seit Mitte der neunziger Jahre widmete er sich darüber hinaus der musikalischen Magie von Solo-Klavierprogrammen, die ihm schließlich auch den Weg in die Karriere als Bühnenkünstler ebneten. Der Durchbruch gelang ihm mit „Le Onde“ (1996), das mit ein wenig Verspätung 1998 sogar den Weg in die britischen Pop-Hitparaden fand. Einaudi ließ sich Zeit, schickte erst drei Jahre später den Nachfolger „Eden Roc“ hinterher, diesmal im Gespann mit dem Duduk-Virtuosen Djivan Gasparijan. Mit „I Giorni“ (2001) gelangten dezent afrikanische Motive in seine Musik, „Una Mattina“ (2005) erwies sich wieder als klassischer und landete prompt unter anderem in den englischen Classical Charts. Mit „Divenire (To Become)“ (2007) wiederum kreierte er eine Suite für Klavier, zwei Harfen und Orchester, inspiriert von drei Gemälden zu den Themen Natur, Leben und Tod des Schweizer Künstlers Giovanni Segantini aus dem 19. Jahrhundert, die wiederum dem Regisseur von „Der Vorleser“ (2008) Stephen Daldry so gut gefiel, dass er den Part „Primavera“ für den Film-Trailer verwendete. Die eigene Soundtrackarbeit setzte Einaudi erfolgreich und prämiert etwa mit der Musik zu „This is England” von Shane Meadow fort und beinahe beiläufig erschien schließlich im vergangenen Mai ein Album von Cloudland, das ihn als elektronisches Nebenprojekt mit den Soundtüftlern Robert und Ronald Lippok zusammen brachte.
Nightbook
Und so schließt sich der Kreis zu Ludovico Einaudis neuestem Solowerk „Nightbook“. Denn von der Arbeit mit Robert Lippok, der zu den Gästen des Albums gehört, hat er einige Ideen für dezente klangliche Erweiterungen übernommen. Dazu gesellen sich Freunde von früheren Projekten wie der Cellist Marco Decimo und der Viola-Spieler Antonio Leofreddi, die die Klangwelt Einaudis um subtile Nuancen erweitern. Er selbst wiederum wagt stellenweise auch den Schritt ins Pathetische, ins Ekstatische, ohne aber die Verankerung in der gestalterischen Klarheit zu verlieren. „Ein Stück wie 'Eros' zum Beispiel“, meint Einaudi, „ist fast so etwas wie ein ritueller Lobgesang, der sich mit seinem Crescendo in Richtung von Ekstase öffnet“. Aufgenommen wurde in Mailand und im Planet Roc Studio in Berlin, in spürbar entspannter Atmosphäre und so konnte ein weiteres fragiles Meisterwerk eines Künstlers entstehen, dessen Klangwelten die Menschen bei der Seele packen.
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