Am Anfang waren die großen Gefühle – Leidenschaft und Sehnsucht. Und die Aussicht, den Gefühlen einen Ausdruck, eine Form geben zu können – Musik. Eine Vision, die sicher viele Künstler weltweit teilen und die sich beim diesjährigen Eurovision Song Contest auf vielfältige Art und Weise zeigte. Das er dieses Gefühl jedoch so überzeugend auf die Bühne bringen konnte, war für alle eine Überraschung. Inzwischen ist Raphael Gualazzi nicht mehr nur der Meinung, dass es kein besseres Vehikel zum Transportieren großer Gefühle gibt als Musik. Er weiß es nach knapp 15 Jahren feinmotorischer Annäherung des Jazz an die italienische Liedform Canzone einfach. Anderthalb Jahrzehnte lang arbeitete der heute 29-Jährige auf die musikalische Vision hin, die sich mit seinem neuen Album erfüllt, das treffenderweise den Titel Reality and Fantasy trägt. Wohl wissend, dass nur bereits Gesehenes oder Gehörtes fantasierbar ist, verweist Raphael Gualazzi auf den musikalischen Kontext des Jahres, in dem das Piano seine lebenslange Liebe wurde. 1991, als ganz Europa Melodien gegen Eurodance-Beats eintauschte, entdeckte er im Alter von neun Jahren nicht nur die Harmonienvielfalt des Pianos. Der Internationalismus, der das Straßenbild von Urbino, der Stadt prägte, die nur einen Steinschlag von seinem norditalienischen Heimatdorf entfernt liegt, fütterte die Gedankenwelten vom jungen Raphael mit fremden, faszinierenden Tönen. Die Studenten der weltberühmten Universität von Urbino, eine der ältesten Unis Italiens, brachten neben kunsthistorischem Wissensdrang, musikalische Feinheiten aus ihren jeweiligen Heimatländern nach Italien. Georgia und New Orleans befanden sich für den jungen, musikhungrigen Raphael Gualazzi aus der Region um Florenz folglich nicht auf einem anderen Kontinent, sondern in den Plattensammlungen der Kunststudenten aus der Nachbarschaft.
Das Feuer für Soul, Blues und den Ragtime-Klavierstil war entfacht. Die Leidenschaft, die gefühlt schon seit früher Kindheit in ihm loderte, hatte ihren Bestimmungsort gefunden. „Leidenschaft ist schwer zu beschreiben“, wagt Raphael Gualazzi einen Erklärungsversuch für den epischen Platz, den Musik in seinem Leben einnimmt. Er wirkt mit seinem jungenhaft-charmanten Blick ein bisschen scheu. Sobald seine Finger aber die Tasten eines Pianos in Besitz nehmen, wird aus dem Introvertierten ein bedingungslos extrovertierter Charakter. Die Verwegenheit, die sein Dreitagebart suggeriert, wird zur Evidenz, wenn seine Stimme die tiefen Gefühle seiner Seele offenbart. Glaubt man ihn bis hierhin durchschaut zu haben, überrascht er im nächsten Moment mit den höchsten Höhen von Falsettgesang, scattet, als ob der Leibhaftige hinter seiner Seele her wäre. All das ist nicht die Form eines wohlgetrimmten Images, sondern direkter Ausdruck einer Künstlerpersönlichkeit, die ihre volle Charaktervielfalt lebt. Seine Ergebenheit für die Welt der Harmonien und Töne erklärt Gualazzi mit einer Form von positiv motivierter Besessenheit. „Wenn ich für etwas oder jemanden brenne, das oder den ich liebe, verliert Zeit ihre Relevanz. Dann stelle ich manchmal fest, wie schnell drei Tage und Nächte ohne Schlaf vergehen können. Es ist eine seltsame, fast schon höhere Kraft und Energie, die mich für keinen Augenblick unaufmerksam sein lässt und mir alles abverlangt.“ Die Kraft auf der Reality and Fantasy fußt, muss vieler solcher Momente entsprungen sein.
Jazz ist für Raphael Gualazzi keine Weltanschauung, sondern gelebte Realität, die Form von Ausdruck, auf der alles basiert, was heute als Popmusik bezeichnet wird. Jazz ist für ihn aber auch ein Freifahrtschein zu all jenen Musikspielweisen, die beseelten Ausdruck besitzen. Sein Jazz klingt nicht wie Fundamentalismus, sondern wie vor Lebenslust überschäumender Modernismus. Es macht schlicht Spaß ihm beim musikalischen Lustwandeln an einem heißen, sonnigen Tag zwischen Detroit, Urbino und New Orleans zu lauschen. Zweifellos ist es unmöglich, Reality and Fantasy zu hören, ohne die Anmutung von Stevie Wonder zu spüren. Dessen „Music Of My Mind“-Phase wird von Raphael Gualazzi in „Scandalize Me“ aufgegriffen und ins Jahr 2011 geführt. Der Opener, „Icarus“ legt mit seinem warmen, einladenden Uptempo-Refrain das Fundament für Ragtime, Duke Ellington, Fats Walter, Motown-Soul, den frühen Funk-Scat von Johnny „Guitar“ Watson, frühlinghaft-lebenslustige Pianoläufe und die ruhigen Momente, aus denen auch Norah Jones und Diana Krall schon Kraft zum Weltruhm schöpften. „Ragtime-Pianoläufe sind so eng mit der englischen Sprache verbunden, dass ich sie nicht krampfhaft in ein italienisches Gesangsgewand pressen wollte“, erklärt Gualazzi seine Affinität zur englischen Gesangssprache. Wenn er sie aufbricht, greifen amerikanische und italienische Song- und Canzone-Traditionen, wie in „Calda Estate (Dove Sei)“ und „Saro Sarai“ ineinander, und machen aus ihrem Interpreten und Komponisten das lange gesuchte Bindeglied zwischen afroamerikanischer und italienischer Popkultur. Zwischendrin steht mit „Madness Of Love“ der Song aus Gualazzis Feder, mit dem er sich im Mai dem gesamteuropäischen TV-Publikum beim diesjährigen Eurovision Songcontest in Düsseldorf präsentierte. Nach 14 Jahren italienischer ESC Abstinenz überzeugte er 120 Millionen Menschen vor dem Fernseher und obendrein noch die Jurymitglieder aus 43 Ländern, die ihn auf Platz 2 wählten. Das Piano-Crescendo „Caravan“ beschließt sein Album, das wohltuend frei ist von althergebrachten Italo-Klischees.
Ob Raphael Gualazzi gerade wegen seiner modernen Musikauffassung, die er als Brückenbau zwischen Tradition und Zukunft versteht, von seinen Landsleuten geliebt wird? Beim diesjährigen Sanremo-Festival, das 14 Millionen Italiener vor die Flatscreens bannte, räumte er gleich vier der begehrten Preise ab: den Nachwuchs-Preis, den Medien- und Kritiker-Award, den Publikumspreis und den Preis für die beste Performance während des Sanremo-Wettbewerbs. „Behind The Sunrise“, die erste Single für den frankophonen Teil der Welt, bescherte ihm im März 2011 den Spitzenplatz der französischen iTunes-Charts. Es scheint, als ob sich die ganze Welt bald dem überaus genügsamen Musiker öffnen will. Reality and Fantasy liefert mehr als ein Dutzend guter, songgewordener Gründe dafür, dem überbordenden Talent Raphael Gualazzi Gehör zu schenken. Er muss keine Hits fabrizieren, um welche landen zu können. Er braucht auch keine Wettbewerbe, die er scheinbar mühelos gewinnt, und erst recht keine Skandale, um sich eine treue Anhängerschaft von Hipsters und Song- und Jazzliebhabern zu erspielen. Ob man ihn als „italienischen Ray Charles“ bezeichnen dürfe, wurde er kürzlich gefragt. Er fand die Andeutung in der Frage schmeichelhaft, aber auch komisch. Zu recht, weil alles schon da war – Raphael Gualazzi nicht.
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DIE ZEIT:
Paolo Conte und Jamie Cullum in einer Person: Italien wagt eine Rückkehr in die ESC-Gemeinde, ausgerechnet mit dem charmanten, jazzenden Außenseiter Raphael Gualazzi.
Georgia on my mind war einer der größten Hits von Ray Charles – und einer seiner langsamsten. Wenn hingegen Raphael Gualazzi Giorgia interpretiert, kennt das Tempo keine Grenzen: Dann wird aus dem 1930 komponierten Song ein furioser Ragtime, dazu singt Gualazzi mit rauer Stimme, wütet mit seinen Händen über der Tastatur, wie ein Teenager auf einer Überdosis Espresso. Kurz vor dem Ende springt er vom Klavierhocker, läuft – einen hohen Ton summend, die Augen geschlossen – auf der Bühne umher, um schließlich mit aller Wucht den Schlussakkord in die Tasten zu hauen.
Der beeindruckende Auftritt im Mailänder Blue Note ist komplett auf Youtube zu sehen, und wer Gualazzi hier zum ersten Mal begegnet, wird überrascht sein von der Energie und Ausgelassenheit, vom Kompositionstalent des 29-Jährigen. Seine Songs auf Italienisch und Englisch wandern zwischen Blues, Soul und Funk hin und her, mal hört man Fats Waller im Hintergrund tapsen, mal erinnern die Harmonien an Ramsey Lewis. Stücke wie Lady O. oder Out of my mind warten mit kräftigen Hooklines auf, wie sie – vielleicht mit Ausnahme von Jamie Cullum – schon länger kein Jazzer mehr erfunden hat. Auf seinem aktuellen Album Reality and Fantasy zeigt sich Gualazzi auch Club-Beats gegenüber offen: Gilles Peterson, der für seinen guten Musikgeschmack bekannte DJ der BBC, produzierte zum Titelsong einen charmanten Remix.
In Deutschland ist Gualazzi bislang noch nicht aufgetreten, doch ein Publikum findet sich spätestens innerhalb dieser Woche. Am Samstag tritt er beim Eurovision Song Contest für Italien auf. Sein Song Madness of Love/Follia d'Amore, den er kompromisshalber in etwas albernem Italo-Englisch vorträgt, ist eine swingende Liebeshymne. Sie bringt zusammen, was den Jazz-Neuling aus dem norditalienischen Städtchen Urbino ausmacht: seinen Humor, die kindische Verspieltheit, den Bezug zum schmachtenden Gesang der Cantautori, dazu der schaukelnde Pianobass und ein entzückender Bläsersatz.
"Ich habe mit neun Jahren angefangen Klavier zu spielen und mit 14 klassische Musik am Konservatorium studiert", berichtet Gualazzi über seine Anfänge. Gemeinsam mit Kommilitonen spielte er in Rockbands Musik von Led Zeppelin und Deep Purple – kehrte aber immer wieder zu den Jazz-Standards zurück. "Mich haben die Wurzeln von Blues und Jazz interessiert, ich habe mich viel mit Musikern wie Roosevelt Sykes oder Robert Johnson beschäftigt." Gualazzi versuchte sich selbst im Schreiben und Spielen im alten Stil und entdeckte dabei seine Vorliebe für die zehner bis vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. "Ich stieß auf Art Tatum, Fats Waller, Mary Loo Williams und die Ragtime-Spielart des Stride Piano. Das war Musik, wie ich sie selbst auch gespielt habe."
Im Interview spricht er viel über die frühe Jazztradition in Italien, den Swing-Sänger Natalino Otto oder den Gitarristen Lino Patruno, auch die Namen der US-Stars Louis Prima, Frank Sinatra und Dino Crocetti alias Dean Martin fallen, allesamt Söhne italienischer Einwanderer. In Italien, sagt Gualazzi, habe der Jazz nach Bebop und Hardbop deutlich an Popularität verloren: "Die Musik hat sich zu schnell weiterentwickelt, die Leute sind irgendwann nicht mehr mit den Musikern mitgekommen."
Gualazzi kehrt auf seine Weise zurück zu den musikalischen Wurzeln, entwickelt aus der Tradition heraus seine Varianten von Rhythm and Blues bis Soft-Jazz – und langsam aber sicher wächst die Fangemeinde. Erst machte sein Fleetwood-Mac-Cover Don't Stop in einem italienischen Werbespot die Runde, dann toppte er in Frankreich die iTunes-Charts mit Behind the Sunrise, inzwischen ist er mit seinem Album auch in den italienischen Top Ten angekommen.