Es ist ja immer so eine Sache mit englischsprachigen Neurockbands aus Deutschland. Sind sie wirklich gut? Eigenständig? Innovativ? Neu? Negativbeispiele findet man wie Zigarettenkippen im Aschenbecher, Positivbeispiele wie die volle Schachtel auf offener Straße. Jung, ambitioniert, modern und deutsch sein - vielleicht war das sogar noch nie so schwer wie heute: Die Medien sind kritisch, der Markt überflutet und eine eigene Identität zu vermitteln, ist verdammt schwer.
Ob die Emil Bulls ahnten, was sie erwartet, als sie sich 1996 beim ‚Emergenza-Band-Wettbewerb’ bewarben? Fest steht, dass sie ihn gewannen und so wenig später ihr inzwischen legendäres Independent-Album „Monogamy“ veröffentlichen konnten, welches sie zu den hoffnungsvollsten Newcomern harter Musik in Deutschland machte. Fest steht auch, dass ihr Weg spätestens seit der Veröffentlichung des beeindruckenden Major-Debüts „Angel Delivery Service“ klar gesteckt ist: Mit 129 Konzerten zwischen Juni 2001 und August 2002, unter anderem bei den großen Festivals Europas, erspielte sich die Band nicht nur einen Status als unwiderstehliche Liveband, sie brannte sich auch allerorts in die Köpfe ein als ernsthafte, harte Alternative. Und fest steht nun auch, dass die Emil Bulls diesen Ruf anno 2003 ausbauen mit „Porcelain“, jenem überaus interessanten neuen Album, welches ja eigentlich schon im Herbst 2002 fertiggestellt sein sollte (Fans werden sich erinnern), aber bis heute auf sich warten ließ - aus guten Gründen.
Dass die Emil Bulls es nämlich tatsächlich geschafft haben, mit „Porcelain“ ihre eigene Version neuer Rockmusik zu kreieren, ist alles andere als Zufall und beschränkt sich ‚nicht nur’ auf augenscheinliche Veränderungen wie den stark verbesserten Gesang von Christ oder die inzwischen hochinteressante Arbeit von DJ-Zamzoe. Es geht hier um mehr. Mit zwei Jahren Erfahrung im Kopf und beispielhafter Detailverliebtheit arbeiteten die Bulls von der Vorproduktion im heimischen Bandraum, über die Aufnahmen in der Nähe von Malaga in Spanien, bis zum finalen Mix in Stockholm an etwas, was man nur schwer in Worte fassen kann: eine musikalische Achterbahnfahrt zwischen wütender Ekstase und Melancholie, zwischen monströsen Pantera-Riffs und Verträumtheit, ein Album, mit dem sie sich einerseits klar absetzen von sämtlichen gängigen Klischees harter Musik, andererseits aber mit eben diesen derart überzogen spielen, dass der mutmaßlichen Konkurrenz Angst und Bange werden wird. Und ein Album, das all diese Extreme vereint in einem bis die Spitzen homogenen Gesamtwerk. Man kann bei „Porcelain“ also sicherlich von allem sprechen, nur nicht von einem leichten Unterfangen.
Helfen ließen sich die Bulls deshalb auch nur von ausgesuchten Personen wie etwa dem alten Bekannten Wolfgang Stach, der schon den Vorgänger produzierte, oder Mischer Stefan Glaumann, der bereits mit den Labelkollegen Rammstein arbeitete. Auch das Artwork entstand mit höchster Sorgfalt und hebt sich durch die Fotos von Gerald von Foris (u.a. Console) angenehm von den gängigen Veröffentlichungen der Szene ab. Gezeigt wird, soviel sei hier schon verraten, jene zerbrechliche Seite der Band, die sich, auch in den brutalsten Momenten, wie ein roter Faden durch das ganze Album zieht - vor allem in den Texten von Sänger Christ. Der Albumtitel „Porcelain“ (zu deutsch: ‚Porzellan’) rundet dieses unkonventionelle, schlüssige und vielschichtige Gesamtbild ab.
„’Porzellan’ – das hat was Kitschiges“, wird manch einer nun unken. Nur zu, der Band wird’s gefallen. „Wer hat sich noch nicht bei Gedanken ertappt, die einen vor sich selber erschrecken lassen oder bei denen man dachte: ‚Oh Gott, wie gut dass gerade niemand weiß, dass ich fühle wie ein Weichei’?“, erklärt Christ ohne Umschweife. „Beim Schreiben der Lyrics war es mir wichtig, mein Innerstes ohne Scheu vor Dritten nach außen zu tragen. Ich wollte meine Gedanken, egal ob sie kitschig derb oder sexueller Natur waren, ohne große Umschweife zu Papier bringen.“ Besagte Texte schrieb Christ fast ausschließlich ‚On The Road’, also fernab der Heimat, und beschäftigt sich in ihnen tatsächlich absolut ungeschönt mit den Eindrücken und Erlebnissen, die er auf seinen ersten zwei Tourneen machte. „Die Texte sind Momentaufnahmen von Situationen und Gedanken, die einen jungen Rocksänger, der zum ersten mal unterwegs ist, beschäftigen und manchmal auch schlichtweg überfordern. Als junge Band nimmt man jede Gelegenheit wahr, den Rock’N’Roll-Mythos auszukosten oder ihm zumindest nachzueifern.“ Ausschweifende Alkoholexzesse und das Experimentieren mit Drogen (natürlich nur legalen) sind die Grundlage der beschriebenen Situationen im Titeltrack oder „Killer’s Kiss“. „Dabei geht es nicht um reale Erlebnisse, sondern um Dinge, die sich in meinem Kopf abspielten als ich sozusagen in meiner eigenen Welt gefangen war.“ „The Coolness Of Being Wretched“ und „40days“ sind weitere Beispiele für Christs Seelenstrips.
So wird der Emil Bulls-Hörer Zeuge, wie ein junger Mann den aufregenden Grat zwischen Fiktion und Realität geht. Untermalt von Musik, die ebenso schizophren und ehrlich ist wie die Motive des Autors: mal euphorisch, mal resigniert, mal dunkel wie die Nacht, mal schreiend vor Lebenslust. „Der Text von ‚This Day’ (die erste Single des Albums) etwa beschreibt die Situation unmittelbar vor und während dem Auftritt“, erklärt Christ. „Wenn man den Wunsch hat, dass dieser Moment nie endet.“ Auch das wurde sicher schon mal gesagt, die Art und Weise aber, wie die Bulls dieses Gefühl musikalisch Verpacken ist das eigentlich Spektakuläre. Man sollte sich das einfach mal anhören.
Nach einer kurzen Denkpause führt Chris noch unbewusst ein durchaus würdiges Schlusswort an: „Niemand kann uns diesen Moment auf der Bühne nehmen. Es ist ein Privileg, in einer Band spielen zu dürfen!“ Fühlen wir uns in diesem Fall privilegiert, daran teilzuhaben. Und freuen wir uns über ein Stück harter Rockmusik, das aus weitaus mehr besteht als aus einer polierten Oberfläche.