Der Tango ist eine Lebenshaltung". Dies sagte Piazzolla in einem 1989 bei seinem Besuch in Chile in Gonzalo Saavedra gegebenen Interview. Der Satz könnte die mehr als 100 Lebensjahre dieses Tanzes zusammenfassen, der in den Armenvierteln von Buenos Aires in einer Zeit entstanden ist, in der dort und in ganz Argentinien eine große Zahl von Immigranten aus aller Welt einströmten, um ihr Glück zu suchen. Die Musik „niederer Herkunft" hat sich durch Piazzolla zu einem „gelehrten" Musikgenre entwickelt, in dem Modernes mit Traditionellem, Populäres mit Kunstvollem verschmelzen. Es ist ein Genre, in dem die verzehrende Traurigkeit des Tangos nie in schmachtendes Selbstmitleid absinkt, welches zu oft den ersten Tango gekennzeichnet hatte, sondern das sich vielmehr durch Heftigkeit, Leidenschaft und Eleganz auszeichnet.
In mancher Hinsicht richtete sich der Tango Nuevo von Astor Piazzolla deshalb gegen die hartnäckigen Konservativen, da er einen Musiktyp darbieten wollte, der nicht dem Tanz, sondern nur dem Zuhören diente. Die Wahl, diesen letzteren Zweck anzustreben, ergab sich mehr aus dem Instinkt heraus als willentlich und wurde gewissermaßen von Piazzollas künstlerischer Ausbildung vorbestimmt, insofern als dass er — nicht im Geringsten dazu geneigt, der Tango-Leidenschaft des Vaters Vicente zu folgen — sich der klassischen Musik und somit dem Prototyp des „gelehrten" Stils zuwandte. Dank eben dieses Studiums der klassischen Musik und der sich daran anschließenden Studien des Kontrapunkts im 4-stimmigen Satz (bei Nadia Boulanger in Paris) gelang es ihm, den traditionellen Tango so tiefgreifend zu erneuern.
Das Nuevo Tango Ensamble hat sich den Kompositionen Astor Piazzollas mit tiefer Bewunderung genähert, angezogen von der geheimnisvollen Faszination dieser zugleich zarten wie heftigen Musik, die von einem verzehrenden und melancholischen Äußerungsbedürfnis durchdrungen ist, um dann in ihrer raren Schönheit hervorzubrechen. Das Bestreben, die Glut des argentinischen Geistes in dieser Musik hervortreten zu lassen und damit den ursprünglichen Sinn der Musik Piazzollas, führte die Gruppe dazu, ein gewissenhaftes Studium zu betreiben, das sich vor allem auf die Interpretation dieses Musikgenres richtete. Durch das Hören und Studieren der Platten Piazzollas ist das ambitionierte Projekt geboren, die musikalische und rhythmische Perfektion des Quintetts — dieser vom Komponisten so heiß geliebten Besetzung — wiederzubeleben, bei der der Einzelne und die Gesamtheit gleichen Wert erhalten. Das aufgrund der Komplexität, die die Aufführung und Phrasierung dieser Musik kennzeichnen, keinesfalls einfache Vorhaben hat in der Gruppe ein wachsendes Interesse hervorgerufen, das sich sehr schnell zu einer tiefen Leidenschaft ausgeweitete, die auch genährt wurde durch den ebenso starken wie schmeichelhaften Erfolg beim Publikum, vor allem aber durch die Kritik von Seiten großer Interpreten und Kenner des Tangos, wie z.B. dem argentinischen Bandoneonisten Gustavo Toker und Oscar López Ruiz, dem Gitarristen desselben Quintetts von Astor Piazzolla. Das Nuevo Tango Ensamble hat Gustavo Toker auf einer seiner Etappen der Italien-Tournee anlässlich des VIII Premio Internazionale Astor Piazzolla in Castelfidardo (AN) getroffen. Aus der sofort entstandenen Übereinstimmung zwischen dem herausragenden Musiker und der Gruppe, entwickelte sich eine Zusammenarbeit, die zur Verwirklichung der vorliegenden CD führte, auf der der Bandoneonist sowohl als Solist als auch mit der Gruppe auftritt und damit die gesamte Ausführung aufwertet. Gustavo Toker war Mitglied in den wichtigsten Tangogruppen in Buenos Aires. Zwischen 1980 und 1992 war er Bandoneonist der Gruppen Contramano, Luis Borda Quintetto und dem Quintett der Fundación Piazzolla, deren Ehrenpräsidentin die Frau Astors, Laura Escalada Piazzolla, ist. Am 17. Dezember 1987 schreibt die Tageszeitung in Buenos Aires La Nación über ihn: „...es gibt einen neuen Bandoneonisten, G. Toker, Repräsentant einer neuen Generation. Toker kann ohne Schwierigkeiten an dem Punkt weitermachen, bis zu dem es sein „Meister" Astor Piazzolla gebracht hat...".
Die auf dieser CD eingespielten Stücke sind die Synthese eines frei interpretierten musikalischen Parcours’, bei dem jedes Instrument eine klar definierte Rolle bei der Exposition der Themen und bei der Unterstützung der melancholischen Musik des Bandoneons und des Akkordeons hat.
Das Eröffnungsstück Fracanapa wurde 1963 geschrieben. Es gibt zwei Geschichten zum Ursprung dieses Titels. Die offizielle behauptet, dass Fracanapa der Name einer venezianischen Maske sei. Die andere legt nahe, diesen Namen als „Francisco Canaro Pasó" zu lesen. Francisco Canaro war Leiter eines Orchesters für klassischen Tango, und er hasste Piazzolla (wie auch dieser ihn logischerweise hasste). Die Bedeutung des Satzes würde in etwa lauten: „Francisco Canaro hat musikalisch ausgedient".
Verano Porteño wurde 1965 für die von Alberto Rodriguez Muñóz geleitete Theateraufführung „Selenita de oro" komponiert. Das zusammen mit Bandoneon gespielte Stück ist von einer überbordenden Vitalität. Im Sommer, der ersten Jahreszeit der von Piazzolla komponierten Quattro Stagioni Portene wechseln sich die beiden wunderschönen „Kantilenen" des Bandoneons und der Violine ab mit obsessiven und gehämmerten Rhythmen, die sowohl in der Einleitung als auch im Mittelteil des Stückes vorkommen. Der Schlussteil bietet ein kontinuierliches Überkreuzen von harmonischen und rhythmischen Elementen, die sich mittels eines „Obligato" des Klaviers auf den tangohaften Schluss — einem wahren Wirbelsturm — vorbereiten.
Oblivion wurde von Piazzolla 1984 für den Film Enrico IV von Marco Bellocchio komponiert. Das Thema — im ersten Teil vom Akkordeon, im zweiten von der Violine gespielt — wechselt, gleich den Erinnerungen eines gelebten Lebens, zwischen Trauer und Glück. Nach der Modulation bietet das Thema in der Violine eine kontinuierliche Entwicklung von sich verändernden, spannungsreichen Reflexen, die — wie in einem Akt von wunderbarer Befreiung — verschwinden, um dem Leuchten einer Freudenträne Platz zu machen, die aus einem intensiven und „wahren" melodischen Einfall hervorsprudelt.
Decarisimo ist ein Stück das im Jahre 1961 zu Ehren von Francisco De Caro geschrieben wurde, den Piazzolla als einen der größten Tango-Musiker bezeichnete. Flores Negras ist ein Stück von Francisco Decaro, das Piazzolla für Solo-Bandoneon arrangiert hat. Die Meisterschaft Piazzollas, Decaros Melodie harmonisch auszusetzen, ist offensichtlich. In mancher Hinsicht scheint die Stimmführung und die Bewegung der Stimmen dem Unterricht des Jazz-Pianisten Bill Evans, eines der Väter der melodischen Harmonik, zu folgen.
Ein Beispiel von kompositorischer Eingebung ist ohne Frage Fugata, ein 1969 komponiertes Stück. Es ist eine Fuge für vier Stimmen im Stile Bachs, die in einen wunderschönen Tango mündet: „If I do a fugue in the manner of Bach, it will always be tanguificated", sagte Piazzolla in einem Interview von 1989. Weiten Raum erhält in diesem Stück der improvisierte Einfall des Pianisten.
Close your eyes and listen wurde anlässlich eines Treffens von Piazzolla mit dem Saxophonisten Jerry Mulligan komponiert. Es ist ein intensives, teilweise verzehrendes Stück, in dem die Tiefgründigkeit des Themas die Sensibilität des Hörers mit Zärtlichkeit umhüllt und ihn gänzlich berauscht, ja fast bewegt, zurücklässt.
Das Stück Escualo wurde als „Herausforderung" für den Violinisten des Quintetts, Fernando Suarez Paz, komponiert. In der Tat ist die Violine das Hauptinstrument dieses Stückes, in dem die Technik, die Präzision und die Kraft des Instruments die eines Haifischs widerspiegeln.
Inverno Porteño von 1970 beschließt die Suite der Quattro Stagioni Portene und ist eines der schönsten Stücke dieser CD. Wenn man von den Quattro Stagioni (Vier Jahreszeiten) spricht, denkt man fast zwangsläufig an die von Vivaldi und wird — gerade im Schlussteil des Stückes — das einzige, wirklich „klassische" Element finden, mit dem die Gedanken ungefähr 250 Jahre zurückversetzt werden.
Adiós Nonino wurde 1959 in New York im Gedenken an den geliebten Vater Vicente, zärtlich „Nonino" genannt, komponiert. Das Stück beginnt mit einer langen Kadenz des Pianisten, die in die geniale Hauptmelodie mündet. Diese erfährt daran anschließend rhythmische und melodische Variationen bis hin zum höchst intensiven „Solo" des Bandoneons, das mit einem wirklich bewegenden Finale beschließt.
Das letzte Stück der CD ist der äußerst berühmte Libertango, der 1973 in der sogenannten „italienischen Periode" Piazzollas geschrieben wurde. Das Ensamble hätte kein besseres Stück auswählen können, um diese Einspielung zu beschließen. Die sechs Musiker spielen alle zusammen in dieser ’verführerischen Explosion’, die Raum für eine atemberaubende Variation des Akkordeons lässt, das Technik, Virtuosität und eine geniale Melodieführung zu verbinden weiß, so wie ebenso Raum bleibt für eine fesselnde Improvisation des Klaviers, die das Final-Crescendo vorbereitet.
Die Interpretation der Stücke Astor Piazzollas war ein wirklich schwieriges Unterfangen. Wir haben versucht, unser Bestes zu geben, indem wir die Musik — statt sie nur auszuführen — tief liebten und lebten, damit unsere Darbietung... „Astor’s mood"... sein könne. Die Verwirklichung dieser ersten diskographischen Arbeit — Frucht eines gleichermaßen hartnäckigen wie brennenden Anliegens — ist für uns ein Grund zu Stolz und tiefer Befriedigung.
Pasquale Stafano
Gianni Iorio, Akkordeonist, legte sein Klavierdiplom ab und vervollkommnete sich bei Pianisten und Lehrern von Weltruf wie beispielsweise Massimo Bertucci, Carlo Bruno, Franco Scala und Sergio Perticaroli. 1990 erwarb er das Diploma di Fisarmonica classica (Diplom für klassisches Akkordeon) beim C.D.M.I (Centro Didattico Musicale Italiano). In letzter Zeit widmet er sich dem Studium des Bandoneons. Pasquale Stafano, Pianist und auch in Jazzmusik diplomiert, hat verschiedene Jazz-Meisterkurse besucht, u.a. Siena Jazz mit Mauro Grossi, Franco D’Andrea und Pescara Jazz mit Brandon McCune, was zur Zusammenarbeit mit zahlreichen Jazzern wie Fabrizio Bosso, Marco Taburini, Stefano Cantini und anderen führte. Andrea Gammino, Violinist, arbeitete mit verschiedenen Orchestern zusammen und hat zuletzt bei der Produktion von Filmmusik zusammen mit Musikern von Weltruf wie Ennio Morricone, Luis Bacalov, Nicola Piovani und anderen mitgewirkt. Savino Tucci, Violoncellist, machte Meisterkurse bei Aldulescu und Piovano, arbeitet fest mit dem Orchestra della Fondazione „U. Giordano" in Foggia zusammen und hat früher in verschiedenen Sinfonieorchestern — u.a. in Bari — gespielt. Torindo Colangione, Kontrabassist, arbeitete mit verschiedenen Sinfonieorchestern zusammen, u.a. mit dem Orchestra del teatro „Petruzzelli" in Bari und dem Orchestra lirico-sinfonica „Ciakovskij" von Ljhevs (Russland), wobei er aber auch die zeitgenössische Musik und die Unterhaltungsmusik nicht vernachlässigte.