Alles Gute kommt von unten
Los de Abajo sind ein musikalisches Kollektiv von jungen Leuten, die sich durch ihr Musikstudium an der Universität von Mexiko-Stadt kennen. Die big-band-starke, äußerst versierte Truppe aus Bläsern und Saiteninstrumentalisten, einem wortgewandten Sänger, einem Schlagzeuger und Perkussionisten, sowie einem Keyboarder zelebriert eine panamerikanischen Musik-Mixtur diverser mexikanischer und anderer lateinamerikanischer Stile, aus Reggae und Ska, Funk, Rock und Rap: Garantiert tanzbar und garantiert mit – mehr oder weniger – expliziten politischen, z.B. den Zapatismo betreffenden Aussagen verknüpft. Die zwei bislang erschienenen Platten sowie zahlreiche Auftritte außerhalb Mexikos haben der Band zu ihrem internationalen Durchbruch verholfen.
Los de Abajo, „Die von unten“ haben sich – gemäß ihrer Überzeugung, dass gesellschaftliche Veränderungen stets von unten ausgehen, nach dem gleichnamigen Buch des mexikanischen Schriftstellers Mariano Azuela benannt. Jener Roman aus dem Jahre 1915 gehört zu den wichtigsten, aber auch ersten desillusionierten Zeugnissen der Mexikanischen Revolution. Was diese im Zuge ihrer parteilichen Institutionalisierung an Elan eingebüßt hat, das scheinen die acht jungen Musiker aus Mexiko City mit ihrem sehr eigenwilligen, mit Punk-Energien angereichertem Mix aus mexikanischer Folklore sowie diversen anderen traditionellen und modernen Latin- bzw. Afro-Latin-Stilen wie Salsa und Cumbia, aus Ska, Reggae, Rock, Funk und Rap wett zu machen. Das dabei zelebrierte Miteinander von Fiesta und Engagement als moderne, politisierte Variante einer uralten mexikanischen Tradition des fröhlichen Trauerns erinnert an Los de Abajo’s großes Vorbild Mano Negra.
Ähnlich wie jene Pariser Ethno-Punk-Pioniere machen auch die Mexikaner nach Möglichkeit gemeinsame Sache mit befreundeten Künstlern anderer Bereiche: Sie beziehen bei ihren, oft in politische Kontexte eingebetteten Konzerten gerne die Arbeiten von Straßenkünstlern, Tänzern, Malern oder – wie z.B. bei den Berliner Heimatklängen 1999 – eine Fotoschau ein, die Bilder von aufständischen Studenten und Zapatisten zeigt. So bekommt das tanzlustige Publikum bestenfalls eine Idee von den vermittelten Liedinhalten und also nicht nur etwas für die Beine sondern auch für den Kopf zu tun. Besagte Berliner Konzerte führen Los de Abajo nach Jahren lokaler Umtriebigkeit zum ersten Mal aus Mexiko heraus. 1992 als Underground-Band quasi „von unten“ gestartet, treten sie zunächst vor allem in Mexiko D.F. auf. Der Versuch, ein einheimisches Plattenlabel für ihr musikalisches Konzept zu gewinnen, schlägt fehl. „Wir hatten ein Jahr lang sämtliche Plattenfirmen Mexikos erfolglos abgeklappert. Und obwohl vielen unsere Musik gefiel, hielten sie es offenbar für nötig aber auch für unmöglich, uns irgendwo zwischen Rock und Salsa einzusortieren.“
An dieser vom Bassisten Carlos Cortés beschriebenen, sympathischen Unklassifizierbarkeit von Los de Abajo hat sich bis heute nichts geändert. Schließlich taucht der ehemalige Kopf der Band Talking Heads, David Byrne, als eine Art Santa Claus in der Geschichte auf. Die Mexikaner sendeten seinem Lateinamerika freundlichen Label Luaka Bop eines Tages ihre Demos zu. Die bereits recht ausgetüftelten Stücke stoßen bei dem neugierigen Byrne auf offene Ohren, und so muss das Material in Trinidad und Tobago im Grunde nur noch ordentlich abgemixt und veredelt werden. Das so entstandene Debütalbum „Los de Abajo“ (Luaka Bop 1998) lässt die starke Ska-Orientierung der ersten Tage genauso hören wie sämtliche seither hinzugekommene, quasi panamerikanischen Marschrichtungen: Durchweg Tanzbodentaugliches, wie Salsa, Cumbia oder Soca, Funk und Rock sowie Reggae, wird mit bitter-süßen, allemal sozialkritischen Texten auf inhaltlichen Tiefgang gebracht.
Garantiert schweißtreibend und im besten Falle nachdenklich stimmend – ob über mexikanische Realien, wie den Kampf der Zapatisten in Chiapas, oder aber allgemein lateinamerikanische bzw. weltumspannende Thematiken wie Konsumgier und Volksverdummung. Was in unseren Breiten oft als falsche Betroffenheit oder polit-folkloristische Attitüde ausgelegt wird, ist für Los de Abajo eine selbstverständliche, alltäglich zu verfolgende Herzensangelegenheit. Ist doch – so Gitarrist Vladimir Garnica - „bis heute ist die Revolution in Mexiko nie wirklich zu Ende gegangen. Wir begreifen uns als Teil von ihr - als Bewohner einer der weltgrößten Städte, in der heutzutage die absurdesten Dinge passieren, wie etwa die Privatisierung des Bildungswesens. Denn immerhin gehörte die kostenlose Schulbildung einst zu den großen Errungenschaften der Mexikanischen Revolution.“
Nach Veröffentlichung ihrer erster Platte beginnen die acht „Chilangos“ – so der Slang-Ausdruck für die Bewohner von Mexiko Stadt – durch die Welt zu touren und sich bei vielen Festivals inner- und außerhalb Europas einen Namen zu machen. 1992 erscheint die zweite CD „Cybertropic Chilango Power, für die Byrne Verstärkung aus Barcelona holt: Der Frontmann der Band Macaco, Daniel Carbonell erwies sich schon zuvor als origineller Soundtüftler und Remixer für King Changó und andere Latino-Bands. So kommen er und seine „Hermandad Chirusa“ genannte Kreativ-Crew nach Mexiko Stadt, um ihren Kollegen bei der Produktion und der gesamten Ausgestaltung ihres Albums behilflich zu sein. Auf diesem wird der eingeschlagene musikalische Kurs der Band konsequent fortgesetzt, wobei mittlerweile noch beherzter neue, z.T. fernere Musiktraditionen, wie die der Balkan-Blaskapellen, sowie elektronische Raffinessen in den eigenen Sound einbezogen werden – einfach all das, was die Mexikaner auf ihren Touren durch die Welt so aufschnappen und lieben lernen. Dieser musikalischen Öffnung entspricht die Vielfalt ihrer Auftrittsorte: Mittlerweile sind Los de Abajo in den unterschiedlichsten, nicht unbedingt für „alternativen“ Rock Latino typischen Lokalitäten zu erleben, wie etwa dem Berliner Jazzclub Quasimodo oder dem Londoner Ronnie Scott’s.
BIO-GRAPHISCHES
Vier Musiker und damit die Hälfte des aktuellen Line Up schließen sich in Mexiko Stadt im September 1992 unter dem Namen Los de Abajo zusammen: Der Lead-Sänger, Gitarrist und Flötist Liber Terán, der wie die übrigen in der Hauptstadt geboren ist, kennt den Drummer und Perkussionisten Yocupitzio Arellano sowie den Spieler diverser Gitarren, Vladimir Garnica schon vom Studium an der Escuela Nacional de Música der Universidad Nacional Autónoma de México. Zu jener Zeit sind sie bereits in diversen Bands unterwegs.
Liber begann mit 14, Gitarre zu lernen und studiert später Komposition und Musikethnologie, klassische Gitarre und Flöte. Allround-Schlagwerker Yocu, der desweiteren Violine spielt, belegte Musik und Philosophie. Und Vladimir nahm zunächst Flöten- und Perkussionsunterricht, wechselt dann jedoch zur klassischen Gitarre. Der vierte im Bunde - ein uralter Schulfreund von Liber – ist der multiple Tasteninstrumentalist Carlos Cuevas, dessen musikalische Sozialisation unüberhörbar mit dem Jazz verbunden ist.
Die Bandanfänge erinnert Liber als eine Zeit des fröhlichen täglichen Miteinanders - des Improvisierens und Jammens, des Komponierens als einen kollektiven Schaffensprozess. Die Musiker – allesamt Kinder der 68er Generation - eint darüber hinaus eine große politische Wachheit, ein kritischer Geist gegenüber jeglichen soziale Ungerechtigkeiten und Mißständen und damit verbunden ein starkes Solidaritätsgefühl mit den Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen in aller Welt, insbesondere dem Zapatismus in Chiapas.
Nach und nach gesellen sich weitere seelenverwandte Musiker hinzu, die die musikalische Rezeptur bereichern: Der Bassist Carlos Cortés “Coca”, der trotz frühzeitiger Aktivitäten als Chorsänger und elterlicher Bemühungen seine wahre musikalische Berufung erst Mitte der Achtziger verspürt, als er den Film “Purple Rain” mit Prince sieht. Der vielseitig Musikinteressierte springt 1996 eigentlich nur bei der Aufnahme der ersten Platte ein, weil gerade ein Bassist fehlt. Aus dem Provisorium wird eine bis heute anhaltende “Festanstellung”. Im selben Jahr stößt der Saxofonist Sänger und Gelegenheitspianist Damián Portugal hinzu, der die anderen ebenfalls von der Musikhochschule her kennt.
1998 erweitert die Band ihre Bläsersektion um Odisea Valenzuela (aus Morelos), die erste und bis dato einzige “La” De Abajo: Die Posaunistin und Sängerin startete achtzehnjährig ihre musikalische Karriere im Jugendsinfonieorchester von Tepoztlán, wonach sie an die Escuela Nacional de Música in Mexiko Stadt geht. Der Trompeter Canek “Chilo” Cabrera (aus Mazatlán) ist als festes Mitglied – obwohl mit der Band seit ihren Anfängen im Kontakt - die (vorläufig) letzte, äußerst gewinnbringende Errungenschaft. Nach seinen ersten Erfahrungen in einem Jugendorchester machte sich der Trompeter alsbald an die Gründung eigener Bands. Auch während seines Kunsterziehungsstudiums streckt er seine Fühler stets in Richtung Musik aus. 1994 stößt er an der Uni auf die anderen von Los de Abajo. Nachdem er auf ihrem Debütalbum zunächst nur als eingeladener Gast auftaucht, hinterlässt er als Trompeter und Sänger bzw. Rapper auf der zweiten Platte wie auch bei den darauf folgenden Live-Auftritten wesentlich deutlichere und vielfältigere Spuren.
Nachdem die Musiker ein Jahr lang in ganz Mexiko erfolglos nach einem Plattenlabel suchen, kommen sie auf die Idee, ihre Demos an David Byrnes Label Luaka Bob zu schicken. Dort stoßen Los de Abajo auf großes Interesse, und man unterschreibt einen Vertrag für fünf Platten. Mit dem Erscheinen der ersten im Jahre 1998 öffnet sich für die Mexikaner das Tor zur Welt: Ihrem gefeierten Europa-Debüt auf dem Berliner Heimatklänge-Festival im Jahre 1999 folgen weitere Auftritte auf zahlreichen Festivals und Events - darunter die Weltmusikmesse WOMEX und das dänische Roskilde-Festival. Das zweite, quasi in spanisch-mexikanischer Koproduktion mit der Band Macaco aus Barcelona entstandene Album “Cybertropic Chilango Power” wird 2002 veröffentlicht.
Mit der wachsenden internationalen Popularität und den damit einhergehenden Verpflichtungen bleibt Los de Abajo heutzutage weitaus weniger Zeit für ihre musikalischen und politischen Aktivitäten auf lokaler Ebene. Doch wenn sie nicht gerade unterwegs sind, halten sich die sieben Musiker und eine Musikerin nach wie vor in ihrer Heimatstadt auf; geben gemeinsam mit befreundeten Bands kleinere und größere Konzerte: Ob nun auf dem Uni-Campus oder aber dem Zócalo, Mexiko Citys größtem Platz, wo die Band im Jahre 2000 mit ihrem großen Idol Manu Chao vor 150 000 Leuten auftrat.