Sie müssen eine Generation von wahnsinnigen Helden gewesen sein, diese 68’er. Was haben sie nicht alles erfunden: Lange Haare für Männer, Bewegung für Frauen, Läden für Kinder; Rotwein schnupfen, Haschisch spritzen, LSD rauchen und anschließend stundenlang und besinnungslos an großen Küchentischen diskutieren und Tee trinken; Hausbesetzungen und selbstverwaltete Jugendzentren; die Wohngemeinschaft, den Hippie-Trail, Open Air Festivals und Räucherstäbchen; die sexuelle Revolution, den bewaffneten Kampf und den Marsch durch Institutionen. Sie haben mutig den Muff von tausend Jahren eingeatmet und weggeblasen; haben demonstriert gegen Ungerechtigkeit und Krieg, sich verprügeln, einsperren und erschießen lassen, und sie haben auch zurück geschossen.
Sie haben sich für den Traum von einer neuen Gesellschaft gequält, indem sie mit jedem geschlafen haben, der gerade auf der Matratze herumlag; sie haben Klotüren ausgehängt und - während sie alles überkommene aus sich herauspressten - bändeweise langweilige blaue Bücher von bärtigen Theoretikern gelesen. Und sie hatten auch noch Spaß dabei.
Das alles ist vierzig Jahre her. Aber war es wirklich so? Waren die 68’er überhaupt die 68’er? Wer sind überhaupt diese ’68er? Und wann genau war eigentlich dieses 68?
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Als zu Beginn des neuen Jahrtausends die Scherben-Doku "Der Traum Ist Aus" über die deutschen Kinoleinwände flimmert, fängt so mancher erst an zu begreifen wie nachhaltig aktuelle Rock-Bands in Deutschland vom Berliner Musikerkollektiv Ton Steine Scherben in gedanklicher und musikalischer Sicht beeinflusst wurden.
Obwohl erst 1970 aus der Coverband Degalaxis und dem Theaterprojekt Hoffmanns Comic Theater gegründet, fällt ihr Name als musikalische Untermalung der 68er Studentenrevolte. Die radikalen und heute wohl etwas plakativ erscheinenden Texte treffen damals genau das Zeitgefühl einer Generation, die kurz vor einer gewaltigen Explosion steht. Stark kontrastierend zu dem 70er Heile-Welt-Schlager-Krams (Heintje, Roy Black und ähnliche Dieter Thomas Heck Stammgäste) wirkt die Band, die kein Blatt vor den Mund nimmt, deren Manager in einer Fernsehshow mit einer Axt den Studio-Tisch zusammen haut und die WDR-Mikrofone einsteckt, gerade richtig um die linke Identifikationsplattform einer rebellischen und verzweifelten Generation zu werden.
Radikalität bringt in finanzieller Sicht natürlich nur Nachtteile mit sich. Wenn man in klar verständlichen deutschen Texten (damals sangen Rock-Bands aus Deutschland normalerweise in Englisch) den Sturz der Regierung fordert und nach Konzerten zur gemeinschaftlichen Hausbesetzung aufruft, ist ein Plattenvertrag in konservativen Zeiten unerreichbar. Den vier Gründungsmitgliedern R.P.S. Lanrue, Rio Reiser, Wolf Seidel und Kai Sichtermann bleibt nichts anderes übrig, als im Sommer 1970 in einem Kreuzberger Hinterhof-Studio ihre erste Single mit den zwei Songs "Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht" und "Wir Streiken" selbst aufzunehmen. Die Kosten und den Vertrieb der 7" übernehmen zwei renommierte Berliner Raubkopierer.
Schon im September des selben Jahres zieht die Band ihren ersten Auftritt an Land. Das von der Erotik-Queen Beate Uhse gesponserte Fehmarn Festival auf einer Ostsee-Insel kann zwar großen Namen, aber kein Geld aufweisen. Als die Scherben mit 28 Mann aufkreuzen und die Veranstalter inzwischen schon mit den gesamten Einnahmen über alle Berge geflohen sind, eskaliert die Situation. Nach Jimi Hendrix' letztem Konzert vor seinem Tode, entern die Berliner Hausbesetzter die Bühne und spielen fünf Songs. Mehr geht nicht. Danach brennt die Bühne ab.
Ein Jahr später sind sie dann so weit, eine komplette Platte aufzunehmen. Eine Plattenfirma haben sie aber immer noch nicht gefunden. Deshalb gründet die Band ihr eigenes Label "David Volksmund Produktion" und veröffentlichen so ihre Debüt-Platte "Warum Geht Es Mir So Dreckig?" auf dem ersten deutschen Indie-Label überhaupt. War Eigen-Veröffentlichung anfangs noch aus einer Not geboren, so entwickelt es sich im Laufe der Scherbenjahre immer mehr zum politischen Instrument. Trotz vieler und auch großzügiger Angebote wechseln Rio & Co nie zu einer anderen Plattenfirma, sondern veröffentlichten jegliche Platten ihrer Hauptband und ihrer zahlreichen Nebenprojekte (Kinderhörspiele oder Musik zu Theaterstücken) auf "David Volksmund". Diese totale Verweigerung gegenüber der Industrie ist bei ihren linken Fans zwar gern gesehen, führt jedoch auf finanzieller Linie in ein bodenloses Desaster. In ihrem 15-jährigen Bandbestehen herrscht in der Kasse konstant Ebbe und die Mitglieder nagen des öfteren am Hungertuch, obwohl man vor ausverkauften Häusern spielt.
Der Scherben-Slogan "Ich will nicht werden was mein Alter ist" mausert sich zur jugendlichen Ideologie. Die Straßenkämpfe sind voll im Gange. RAF und Wasserwerfer beliebte Schlagwörter auf der Springer-Zeitung und mitten drin stehen Ton Steine Scherben parolenschwingend auf einem Bauwagen. Am 8. Dezember 1971 ist es dann mal wieder an der Zeit für eine Hausbesetzung. Nach einem Konzert in der Mensa der Berliner Technischen Universität besetzen Zuschauer und Band ein Teil des leerstehenden Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg. Das Haus wird im Gedenken an einen vier Tage vorher im Straßenkampf von Polizisten erschossenen Studenten, Georg-Von-Rauch-Haus benannt. Das gleiche Haus wird auf der ein Jahr später erscheinenden zweiten Platte "Keine Macht Für Niemand", die der Musikexpress dreißig Jahre später zur viertbesten deutschen Platte aller Zeiten wählt, nochmals durch den "Rauch-Haus-Song" geehrt. Der Plattenname des Klassikers wird zum Schlachtruf der Studentenrevolten. Die Scherben stehen wie keine andere Band in dieser Zeit für Revolution, Anti-Kapitalismus und Krawalle. Der Satz stammt aber eigentlich nicht von Texter Rio Reiser, sondern aus einer Revolutionszeitschrift.
Als die Jugendproteste Mitte der Siebziger langsam abflauen, beginnt die Radikalität auch aus den Texten der Scherben zu verschwinden. Nach dem "Scheitern der Revolution" werden sie zunehmend resignativer und auf dem dritten Album "Wenn Die Nacht Am Tiefsten" sucht man vergebens nach Parolen. Mit dem langsamen Abtauchen der Linken zieht es auch die komplette Band mitsamt Freunden aus dem Berliner Zentrum der Revolution. Auf einem alten Bauernhof in Fresenhagen (Nordfriesland) findet man ein gemeinsames neues Zuhause. Doch auch hier wird man nicht lange glücklich. Schon nach kurzer Zeit kehrt die Hälfte der Umsiedler von Geld- bzw. Hungersnot geplagt wieder zurück in die Hauptstadt. Der harte Kern um Rio strotzt den Weichlingen und bleibt.
"Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht" hieß es auf der ersten Single. Inzwischen hat sich die Band aber nahezu selbst kaputt gemacht. Die ausgiebigen Touren zehren an den Körpern und an der Freundschaft. 1976 schließen sich die Scherben in ihrem eigenen Studio in Fresenhagen ein und arbeiten hauptsächlich an Auftragsproduktion, wie z.B. die Kinderplatte "Teufel Hast Du Wind". Rio Reiser übernimmt sogar eine Filmrolle und erhält für seine Darstellung in "Johnny West" den Bundesfilmpreis.
Erst 1980 reißen sich die Scherben wieder zusammen und arbeiten an einer neuen Platte, die 1981 erscheint. Auf "IV" ist die Revolution kein Thema mehr, und nicht wenige, die früher mit den Scherben auf einer Linie waren, stellen sich nun gegen sie. Einen neuen Verbündeten findet man aber in den "Grünen" (ab 1982 ist Claudia Roth, die spätere Bundesvorsitzende der Grünen, sogar Band-Managerin) und ihren Kumpels, den Atomkraftgegnern. Von Brok- bis Wackersdorf - die Scherben sind dabei. Spielen für Menschenketten von Ulm bis Stuttgart und gegen Brennstabtransporte. Viele ehemalige Mitläufer werfen den Scherben einen poppigen Ausverkauf vor. Man stellt sich taub und macht weiter sein Ding, das bis auf die ausverkauften Tourneen aber relativ erfolglos bleibt. Das 83er Album "Scherben" wird von den Kritikern als das kreative Ende der Band deklassiert.
Die Prophezeiung tritt dann auch prompt ein: auf einer Wahlkampfveranstaltung der Grünen am 6. März 1985 spielen Ton Steine Scherben ihr letztes Konzert. Danach verstreuen sich die Mitglieder in alle Ecken der Welt. Einzig Rio wird mit seinem NDW-Pop und der Hit-Single "König von Deutschland" zum erfolgreichen Star. Er stirbt 1996, ohne je wieder an den Erfolg dieser Single anknüpfen zu können.
Zum dreißigjährigen Bandjubiläum versuchen verschiedene Musiker, noch ihr Stück von Scherben-Kuchen abzubekommen. So blamieren sich ehemalige Bandmitglieder namens Neues Glas aus alten Scherben in einer äußerst peinlichen Neuinterpretation der alten Songs. Dagegen versuchen auf "Die Erben der Scherben" einige Berliner Musiker halbwegs akzeptabel, den Klassikern ein zeitgemäßes Gewand zu verpassen.
Am besten ist aber immer noch das Original, keine Frage. So ist es eine gute Nachricht für die Fans, dass die ersten fünf Scherben-Alben im Sommer 2007 re-releast werden: auf Vinyl und im Original-Layout. Außerdem erscheint auf Möbius Rekords eine auf 500 Stück limitierte Zweit-Auflage der seit 2001 vergriffenen Vinyl-Ausgabe "Rio Reiser am Piano". Das 3-fach Album enthält auch vier Bonus-Tracks, die auf dem Original keinen Platz mehr hatten.