Als William C. Emker, damals Offizier der US-Armee, 1946 die verwüsteten Archive der Reichskanzlei in Berlin betritt, findet er einen Briefumschlag mit einer merkwürdigen Anschrift. Das Schreiben ist an "Unseren geliebten Führer" adressiert. In den Wochen zuvor hatten die Alliierten reihenweise schwere Aktenschränke aus den Räumen geschafft. Darin sind hauptsächlich Unterlagen, die sichergestellt wurden, um die Gräueltaten der Nazis zu dokumentieren. Was nicht wichtig erschien, blieb wild verstreut liegen. Emker greift sich einen Stapel der zurückgelassenen Briefe und steckt ihn ein.
Aus zwei mach eins
Es wuchs zusammen, was zusammen gehört. Am 3. Oktober 1990 feierten die Deutschen die Wiedervereinigung. Mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" hatten die Ostdeutschen zuvor das SED-Regime bezwungen. einestages präsentiert Geschichten rund um die deutsche Einheit
Erst zu Hause merkt der Soldat, was für einen Fund er gemacht hat: Die Briefe entpuppen sich als Fanpost an den Führer. In den nächsten Wochen stattet Emker der Reichskanzlei immer wieder Besuche ab, schafft aktentaschenweise Briefe heraus. Rund 8000 Schreiben kamen so zusammen: Vor Nationalstolz triefende Gedichte, freundliche Angebote, dem Führer die Haare zu schneiden - und eine Reihe von Liebesbriefen von "Volksgenossinnen".
Lobgesänge und Wahnvorstellungen
Im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde stapeln sich die Liebesbriefe einen Leitz-Ordner dick. Porös und löschpapiertrocken kleben die Blätter zwischen Folien. Viele von ihnen sind mit rosa Flecken übersäht, das sind die Stellen, an denen das Papier chemisch vom Schimmel befreit wurde. Die vergilbten Seiten riechen nach Staub und gegorenem Orangensaft. Auf ihnen schimmern Liebsschwüre in blauer oder türkisfarbener Tinte. Die oft schwer leserlichen Handschriften sind über die Jahre stark ausgeblichen, einige von ihnen hat das durstige Papier bis zur Unkenntlichkeit aufgesaugt. Fotos von lächelnden Menschen und Postkarten mit Blümchenmotiven liegen wild zwischen den Blättern. Die Dokumente füllen Hunderte Seiten, zusammen bilden sie ein Mosaik personifizierter Geschichte.
Manche der liebestollen Frauen verfassten durchaus sachlich gehaltene Anschreiben: "Lieber Führer Adolf Hitler! Eine Frau aus dem Sachsenland wünscht sich ein Kind von Ihnen", heißt es da. Andere schickten schmachtende Lobgesänge: "Du süßestes herzensbestes Lieb, mein Einziges, mein Allerbester, mein trautest und heißest Geliebtes. Weißt Du, heute könnte ich Dir gar nicht genug Namen geben, heute möchte ich Dich vor lauter Lieb' auffressen. Was würden aber da die anderen sagen?" Einige der Briefe sind Beweis der Wahnvorstellungen ihrer Verfasserinnen ("Du gibst mir über Rundfunk so viel zu verstehen") und so manch einer ist eine patriotische Offenbarung von ganz besonderem Kaliber: "Ich küsse Dich auf Deine 4 Buchstaben und tue Front frei, damit Du fühlst wie lieb ich Dich hab."
"Meine Braut ist Deutschland"
Keine Frage: Auch wenn der Diktator immer wieder bekräftigte: "Meine Braut ist Deutschland" - der Mann hatte Schlag beim anderen Geschlecht. Und das, obwohl er mit seiner archaischen Vorstellung von der Rolle der Frau nicht hinterm Berg hielt: Ihre Kriegsfront sei der Kreißsaal und ihre Hauptaufgabe bestehe darin, dem Führer Kinder zu schenken - je mehr, desto besser. Einmal äußerte Hitler gegenüber seinem Leibarchitekten und Rüstungsminister Albert Speer: "Sehr intelligente Menschen sollen sich eine primitive und dumme Frau nehmen. Sehen Sie, wenn ich nun noch eine Frau hätte, die mir in meine Arbeit hineinredet! In meiner Freizeit will ich meine Ruh' haben." Eva Braun, die Geliebte des "Führers" stand daneben.
All die Briefe an den "süßen Adilie" erreichten Hitler nie. Sie wurden seinerzeit von Beamten der Reichskanzlei gesichtet und zu den Akten gelegt. Jene Frauen, die dem Führer ihre Liebe allzu überschwänglich offenbarten, wurden zudem häufig unter Überwachung gestellt und mitunter von der Sicherheitspolizei bedroht. Einige von ihnen wurden sogar - zu recht oder unrecht - für geisteskrank erklärt und in "Heil- und Pflegeanstalten" eingeliefert - was angesichts der Nazi-Ideologie vom "unwerten Leben" einem Todesurteil gleichbedeutend sein konnte.
Die Geschichte der Gertrud Z. zeugt von dieser Vorgehensweise. Unermüdlich schrieb die Frau dem Führer Liebesbriefe. Von einem besonders langen, liebestrunkenen Brief existiert sogar eine Schreibmaschinenabschrift. Sie wurde 1943 vom Reichsministerium angefertigt. "Wenn ich nicht beim Führer sein kann, bin ich nur ein lebender Leichnam", schreibt Frau Z. darin. Die Passage wurde mit rotem Buntstift unterkringelt. An dem Brief klebt ein Protokoll vom 5. November 1943, adressiert an das Innenministerium: Der Minister habe telefonisch mitgeteilt, dass Frau Z. sich ab sofort in einer "Irrenanstalt" befinde.
TRANSIT
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Katarina Csanyiova, Julia Kronenberg, Andreas Pronegg, Ralph Reisinger.