“Sie hat etwas, was die Leute nicht begreifen”
Tagesspiegel: "Mit Dylan in der U-Bahn. Berührend. Die Schweizerin Sophie Hunger singt seidig wie Norah Jones, meckernd wie Patti Smith, inbrünstig wie Janis Joplin. "
Sophie Hungers musikalischer Werdegang liest sich wie ein modernes Märchen. Noch vor zwei Jahren war die 1983 geborene Schweizerin selbst in ihrer Heimat ein vollkommen unbeschriebenes Blatt. Dann veröffentlichte sie ihr in Eigenregie produziertes Debütalbum “Sketches On Sea” und wird laut Journalie „zum bestgehüteten Geheimnis der Schweizer Musikszene“. Doch nicht nur beim Schweizer Publikum weckte die Widerspenstige mit ihrer Musik Interesse: schon bald erhielt sie von namhaften Kollegen wie dem Jazz-Trompeters Erik Truffaz, der Industrial-Band The Young Gods und dem Chansonnier Stephan Eicher Einladungen internationale Bühnen mit ihnen zu teilen. Schließlich wird ihr, nach einem atemberaubenden Auftritt am EuroVox 2008-Festival begleitet von standing ovations, auch von der renommierten französischen Tageszeitung Libération prophezeit, dass sie “nicht lange das bestgehütete Geheimnis der Schweiz bleiben wird”. Die Presse feiert DIE Neuentdeckung zwischen folkiger Singer/ Songwriter-Tradition, atmosphärischem Jazz, Indie-Pop und balladeskem Soul mit endlosen Lobeshymnen. Ihr erstes Studioalbum “Monday’s Ghost” wird von Marcello Giuliani, der bereits mit Größen wie Étienne Daho, Jane Birkin, Henri Salvador und Erik Truffaz arbeitete, produziert und katapultiert sich sogleich auf den ersten Platz der Schweizer Album-Charts und lässt dabei gestandene Acts wie Bushido, die Söhne Mannheims und Metallica im Windschatten stehen. “Monday’s Ghost” ist ein außergewöhnliches Stück Musik: intensiv, betörend, widerspenstig und berührend. Was Sophie Hunger aus dem anschwellenden Meer der zeitgenössischen Songschreiberinnen hervorhebt, ist die Kombination von Integrität und Reife, die sie auf ihrem Album beweist. Mit ihrer beeindruckenden Konzertpräsenz und einer charismatischen, betörenden Stimme sorgte sie europaweit für Aufsehen und begeisterte ihre stetig wachsende Fangemeinde u.a. beim Eurosonic Festival, Montreaux Jazz Festival, Jazznojazz Zürich....
amazon.de
Die schweizer Wunderstimme Sophie Hunger changiert auf „Monday’s Ghost“ eindrucksvoll zwischen amerikanischem Singer/Songwritertum und anspruchsvollem Jazz-Pop.
Das Klischee des wortkargen, aber genialen Musikers scheint in unserer pop-affinen Zeit anachronistisch und kontraproduktiv. Wie will man schließlich Platten verkaufen, wenn man sich der Presse verweigert? In einem Interview mit dem Schweizer Fernsehsender SF 1 sträubt sich Sängerin Sophie Hunger vor Erklärungen gegenüber der Journalistin („Singen tu i scho gern, Sagen tu i net so gern“) und fängt lieber an zu singen. Ein Konzept, das aufzugehen scheint. „Monday’s Ghost“ heißt nun ihre erste offizielle Veröffentlichung und schielt gleichermaßen auf die Chartsspitze, wie auf angesagte Jazz-Festivals.
Dabei vermeidet die Musik der Autodidaktin gängige Bar-Jazz-Langeweile à la Norah Jones, ist mal sphärisch und mal temporeich und überzeugt durch eine organische, warme Soundästhetik. Zugleich hängt ihr eine sehr leichte Konsumierbarkeit an, sie bietet trotz harmonischer Komplexität eingängige Melodien und Hooklines. Getragen durch die kraftvolle, rauchig-samtene Stimme von Sophie Hunger und ihres Gitarren- und Klavierspiels, werden die Stücke gern mal mit fluffig-süffisantem Posaunenspiel oder Vibraphon ergänzt, gelegentlich auch von reduziertem Schlagwerk unterstützt. Die Ballade „Rise and Fall“, einer der Höhepunkte des Albums, beginnt mit sanftem Klavier- und Cellospiel und bäumt sich ab der Hälfte der Spielzeit zu einem ruhelosen orchestralem Inferno auf. Mit dem Titelstück „Monday’s Ghost“ und „Drain Pipes“ sind noch zwei weitere so großartige Werkminiaturen enthalten.
Es geht aber auch simpler, wie im herausstechend-intimen „Walzer für Niemand“. Mit diesem einzigen in deutscher Sprache gesungenen Song zeigt die 26-jährige deutliches Gespür für lyrischen Minimalismus und kompakte Form. Das wirft die Frage auf, warum sie nicht öfter in der Muttersprache singt und textet. Ist es die Platzierung auf dem internationalen Markt, oder Selbstschutz aus Interpretationsangst, die die die sonst in Englisch gehaltenen Stücke der Sängerin bieten? Vielleicht im Fall von Sophie Hunger auch die Verbeugung vor den großen Sängerinnen und Songwriterinnen des englisch-sprachigen Raumes. An Joan Baez oder Joni Mitchell erinnert ihr Gesangsstil zu Weilen, an den rockigeren Stellen des Albums vor allem an Deborah Anne Dyer alias Skin (ehemals Skunk Anansie). In der Schweiz konnte Hunger mit dieser Mischung schon die Charts erobern, was überrascht und erfreut ob so eines musikalischen Anspruches
•••••••••••••••••••••••••••••
SOPHIES WELT
So gut, so schön, so wahr klang schon lange kein Pop mehr aus der Schweiz. Sophie Hunger kann es schaffen.
Natürlich regnet es in London zwei Tage lang durch, natürlich essen wir zwei Tage lang schlecht, und Kilburn, im Nordwesten der Stadt gelegen, ist nachts etwas ungemütlich. In den beiden Klubs, in denen die Sophie Hunger Band spielt, gibt es mal fast keine und mal eine gute, aber defekte Verstärkeranlage. Doch natürlich war am Ende alles schön. Denn London, wie es wirklich ist, und Sophie Hunger: Das passt. Regen, Härte, Melancholie und Alltag. Folk, Soul. Immer intensiv, immer auf der Hut.
Die Dokumente verzeichnen eine Emilie Welti, die Eltern haben sie 1983 Emilie Jeanne-Sophie Welti Hunger getauft. Ihr musikalischer Hofstaat auf Tour ruft die ganz und gar aussergewöhnliche Dame auch mal gewöhnlich «Fräu Wälti». Und auf der Affiche steht Sophie Hunger (ausser bei Radio France Inter, da heissts auf gut Französisch «Unger»). Viele Namen braucht, wer viele Fantasien speist. Im Hiphop ist das Pose. In Sophies Welt ein Zeichen des Staunens. So jung, so schnell so gut. Noch ohne die Promo-Lawine eines Plattenmultis, ohne Fernsehen. Und fast ohne Radio.
In der Deutschschweiz, wird «Madame Unger» in Paris sagen, wohin sie die kleine Tour nach den Londoner Auftritten trägt, gibt es nur Hitradio nach angelsächsischem Vorbild. Im persönlichen Gespräch nennt sie es «unerträglichen Schwachsinn». In der Romandie ist das anders. Denn auf der ersten Radiokette der TSR gibt es den Medienveteranen Gérard Sutter und seine Sendung «Radio Paradiso», donnerstags bis montags zwischen 19 und 20 Uhr. Es ist eine Sendung ähnlich jener des verstorbenen BBC-DJ John Peel. Eine Sendung, in der es um Musik geht. Und um Musiker. Und nicht bloss darum, dem sogenannten Volk nach dem Mund zu reden, bis man nur noch in Fahrstühlen und Telefonschleifen gehört wird.
Sutter war hartnäckig und hat Hunger viermal ins Studio geholt. Hunger sagt: ohne Sutter keine Hunger. In der Romandie wurden die richtigen Leute auf sie aufmerksam: Patrick David, Manager der erfahrenen Elektrorocker The Young Gods, und Christian Fighera, Labelbetreiber von Gentlemen Records. Beide sind in Lausanne. Sie suchen nach einer Firma, die die nächste Platte von Sophie Hunger mit mehr Kapital auf den Markt bringt.
Denn so viel ist mitten im zweiten Internetboom der Musikindustrie klar, der gerade die Rentabilität der sogenannten Nischen beweist: Es darf auch mal etwas anderes sein als die Charts. Nicht ideologisch, ökonomisch gesprochen.
Hungers erste Platte ist fast noch ein Demo, aufgenommen im Wohnzimmer vor gut einem Jahr: «Sketches on Sea». «Ich wollte etwas für mich selbst machen, es stand ja Weihnachten vor der Tür», sagt Frau Hunger und gesteht, damals ans Aufhören gedacht zu haben. Ihre Band Fisher, die verträumten Indie-Rock mit etwas Soul spielte, kam nicht vom Fleck. Mittlerweile hat man sich getrennt. Wer das rührende Abschiedskonzert im Zelt vor dem Zürcher Klub Helsinki gesehen hat, weiss warum: Hungers boots are made for walking und sind schlicht ein paar Nummern grösser.
Sie ist die Schweizer Sängerin, die der Melancholie nicht deshalb trotzt, weil sie ihr ausweicht, sondern weil sie ihr in die Augen schaut. Und auch etwas sieht, von dem sie singen kann. Oft handeln ihre Songs von der Einsamkeit der Liebe. Manchmal von der Einsamkeit ihres Landes. Im «Lied für Zwärge», einem der wenigen Mundartlieder auf ihrer Solo-CD, als böses Märchen. «Sig emal chli lieslig und lueg dr Bode a!», singt sie in süssem Moll zum Gitarrenpicking. «Uf vilne, chline tusig Zwärge tuesch du schtah.» Sinngemäss dichtet sie weiter: Nicht die Schweizer sind die Zwerge. Das sind ja wohl jene, die an unserer Tür kratzen. Die Riesen sind wir.
SPIELEN OHNE SCHEIBENWISCHER
In jeder Zeile bleiben die Bilder traumgleich knapp, die instrumentalen Stimmen spärlich. Ihre Tourband ist nur ein Trio, und nicht mal das spielt unentwegt. Die meisten Schweizer Bands erkennt man, noch bevor sie singen: Weil alle immer spielen. Sollte direkte Demokratie einzig Mitte und Mehrheit heissen, muss man sie popmusikalisch leider ablehnen.
Michael Flury, ein graziler Bär und Riesentalent an der Posaune, kann auch wippen, wenn kein Beat schlägt. Christian Prader an der Querflöte, zweiten Gitarre oder am Klavier ist die Reduktion in Person. Und Evelinn Trouble, die 18-jährige Backgroundsängerin, gilt zwar als Paradiesvogel und steht oft kurz vor kleinen gekonnten Ausbrüchen. Doch Hungers Soulfrau weiss, wer die Chefin ist. Hunger ist auch erst 24, kümmert sich aber bereits um den Nachwuchs.
Am ersten Londoner Konzert vertauschen Trouble und Hunger ganz kurz die Rollen. Als der Bühnenmonitor von Sophies Gitarre aussteigt, wird die Chefin blass. Bestimmt und auf Französisch spricht sie zum Mischer der Young Gods aus Genf. Christian Prader blickt besorgt in die Runde. Denn Sophie will gleich ganz ohne Verstärkung spielen und schiebt das Mikrofon weg. Und Evelinn Trouble setzt es flink und sachte wieder vor ihre Nase. Muttersein ist manchmal nur eine Funktion.
Nach dem Konzert, im kleinen Backstage-Bereich des Klubs The Luminaire, wird Sophie laut. Sie ist sauer, dafür kehrt die Farbe zurück in ihr Gesicht. «Das ist ja wie Auto fahren bei Regen ohne Scheibenwischer. Da kannst du gleich die Windschutzscheibe rausschlagen!» Nein, nein, es war alles in Ordnung, den Leuten hat es gefallen… «Hör auf!» Lassen wir die Sängerin kurz allein Backstage. Bei der Band und dem begeisterten britischen Fotografen. «Oh man, there’s a little bit of steel in her, eh?», flüstert der Kollege.
Stahl ja, golden fliessender. Das «Lied für Zwärge» ist ein Song, wie ihn die Berner Mundartrocker kaum mehr zustande bringen. Und einer, für den sich Hunger schämt. «Mir ist ein Standpunkt passiert, das hat mich zornig gemacht.» Standpunkte seien nicht relevant, Aussagen langweilig. Aha.
Dass sie viel von der Mundart versteht, obwohl sie fast nur akzentfreies Englisch singt, muss sie trotzdem spüren. In Lausanne nimmt sie in diesen Monaten ihre neue Platte auf, die im Frühling, je nach Vertrag auch erst im Herbst, erscheinen wird. Von den Studiosessions erzählt sie im Lauf der Wochen des Kontakts immer anderes. Mal will sie mehr «Sch-sch-schub» und meint den Bass des Produzenten Marcello Giuliani und das dazugekommene Schlagzeug. Dann findet sie, die Songs würden diese äusserliche Kraft gar nicht brauchen. Der vorerst letzte Stand: Drei, vier schnelle Nummern werden es schon sein.
«Spiegelbild», der einzige neue Song in Mundart, singt sie Zürichdeutsch und sehr zart. Ich muss nachfragen, ob das Lied wirklich von ihr stammt. Denn es klingt wie ein Klassiker, wieder nur mit Gitarre und der Background-Stimme von Prader. Vielleicht, schreibt Hunger auf den Brief zum Demo, wird sie die Gitarre mit einem Klavier ersetzen.
—
Spiegelbild
–
Oh, geschter häsch plötzlech nüt meh gseh
(Oh, gestern hast du plötzlich nichts mehr gesehen)
Und sithär gseht dich äu niemmert meh
(Und seither sieht auch dich niemand mehr)
Oh, geschter isch dr Schpiegel verbroche
(Oh, gestern ist der Spiegel zerbrochen)
Und sithär bricht dis Gsicht usenand
(Und seither bricht dein Gesicht auseinander)
–
Ich – bi nur e Idee vo dir
(Ich – bin nur eine Idee von dir)
So wie du sie willsch
(So wie du sie willst)
Und du – bisch nur e Idee vo mir
(Und du – bist nur eine Idee von mir)
So wie n ich sie bruuch
(So wie ich sie brauche)
–
Wänns das gäbti, häi, wänns das gäbti, wäre mir immer gliich
(Wenn es das gäbe, ach, wenn es das gäbe, wären wir immer gleich)
Min Dokter seit: Chumm, leg dr Mantel ab
(Mein Arzt sagt: Komm, leg den Mantel ab)
Und ich säg: Aber drunder han i nüt
(Und ich sage: Aber drunter habe ich nichts)
Min Dokter seit: Chumm, leg dr Mantel ab
(Mein Arzt sagt: Komm, leg den Mantel ab)
Und ich säg: Aber drunder bin i nüt
(Und ich sage: Aber drunter bin ich nichts)
–
Ich – bi nur e Idee vo dir
So wie du sie willsch
Und du – bisch nur e Idee vo mir
So wie n ich sie bruuch
–
Wänns das gäbti, häi, wänns das gäbti, wäre mir immer – allei
(Wenn es das gäbe, ach, wären wir immer – allein)
—
In der Wiederholung des zweiten Refrains überlappen die Perspektiven. Hunger singt «Ich bi», Prader «Du bisch» – gleichzeitig. In der Liebe kann nie spiegelbildliche Gleichheit herrschen. Früher oder später zerbricht sie gern genau daran. Hunger hat dies in eine einfache, fast volkstümliche Form gesetzt. Sie singt «Spiegelbild» auch in London, in Mundart, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Leute sind jetzt sehr still.
Man sagt: It’s the singer, not the song. Wenn beides stimmt, der Vortrag und das Vorgetragene, wird es richtig aufregend. Ihre wie gestanzten Pausen, wie sie manches verschluckt, anderes überdeutlich ausspricht, wie sie mit der Sprache als Material arbeitet: Dieser Ernst im Spiel überträgt sich auf das Publikum. Man hat das Gefühl, ernst genommen zu werden. Hunger vermittelt so die intime Illusion, man wohne einem Akt der Entstehung bei. Man glaubt, hier suche jemand – in diesem Moment – nach den richtigen Worten. Und dem richtigen Ton, sie zu sagen. Es klingt immer nach Respekt. Kein Wunder, sieht man an ihren Konzerten nicht nur jene junge Klientel, die seit ein paar Jahren auf New Folk steht. Sondern immer mehr Erwachsene jenseits der dreissig.
Hunger wandelt zwar im Kleid einer neuen Romantikerin mit akustischer Gitarre, Klavier und stets mit ein paar Perlen aus Plastik. Aber diese Romantikerin ist im Kern vielleicht wirklich aus Stahl. Nebenbei ist sie die grösste Schweizer Singer/Songwriter-Hoffnung, die es gibt. Ach: gab.
In London kennt sie noch niemand. Aber das Konzert in Kilburn mit The Young Gods und das zweite in einer kleinen Bar südlich der Themse zeigen ähnliche Reaktionen wie in der Schweiz: Wer sie live hört, hört auf zu reden und stellt das Glas mit Bedacht auf den Tisch. Dann das Tuscheln: Wer ist das, wo kommt die her? Hunger? Like hunger? Ja, das ist der Mädchenname ihrer Mutter. Oh, okay. Ihr Vater ist Zürcher und Diplomat in Teheran. How interesting.
Für Emilie Welti war Teheran vor ein paar Jahren eine wichtige Station. Sie hat für ihren Vater einen Konzertabend organisiert. Mit iranischen Bands, die gar nicht auftreten dürfen, ausser sie spielen traditionelle Musik. Auf Schweizer Boden, in der Botschaft, durfte es auch Speed Metal plus klassisches Piano sein. Sie hat in der Teheraner Musikszene gemerkt, welcher Reichtum an spezifischen Fähigkeiten in der Unfreiheit gedeiht. Wichtiger: Sie hat gemerkt – und fast nur hier wird sie grundsätzlich –, dass die Freiheit zu Hause oft bloss zur Untätigkeit führt. «Unsere Freiheit bedeutet nichts mehr.» Von diesem Verlust, vom Gefühl des Mangels handelt die Hungermusik, gerade weil sie erfolgreich wie das Gegenteil zu klingen versucht.
Backstage in London ist sie die Einzige der Band, die vom Whisky der altgedienten Young Gods trinken darf. Schnaps für alle gibt es erst im Hotelzimmer (dann ist Fräu Wälti aber bereits im Bett). Vorn spielt die auch in England bekannte Industrial-Band vor rund 200 Zuschauern erstmals auf der Insel ihr Akustik-Set. Das Publikum hat sich in seinen Vierzigern eingerichtet, trägt im Ausgang schwarz, gern mit Hut oder Irokese, auch mal Latex um die Brust. Erschienen wird pünktlich. Vor der Zugabe kommt Franz Treichler, der schamanische Sänger der immer hippieeskeren Ex-Punker, nach hinten und fragt Sophie, was längst ausgemacht ist: Willst du mit uns singen? «Everything in its right place» von Radiohead. In England kennt jeder diesen Song. Wenn das nur gut geht.
VERLAH MI NÖD IN PARIS
Doch Sophie kennt ihren Thom Yorke, den Sänger von Radiohead. Vor dem Konzert vergass sie zwar den Text. Statt zu essen, stand sie plötzlich wortlos auf und verliess den Tisch. Das passiert ihr manchmal. Auch im Sommer, in Paris: Sophie vergisst den Text ihres eigenen Songs, den sie gleich im Radio singen soll. «Irgendwann habe ich die Nummer des SBB-Railservice angerufen, weil ich hoffte, dass ich bei einem Gespräch in meiner Muttersprache zu mir finden würde.» Ob sie auch in London zur Beruhigung Zugverbindungen nachgefragt hat, weiss man nicht. Jedenfalls imitiert sie auf der Bühne Yorke bis kurz vor der Parodie. Die Leute sind hingerissen.
In London Radiohead zu singen, das war mutig. Nicht ganz so mutig, wie in Paris «Ne me quitte pas» von Jacques Brel in ein englisches Hunger-Stück zu verpflanzen. Das tat sie diesen Sommer im Vorprogramm von Stefan Eicher. Als sie das Vorhaben ihrem Manager eröffnet hat, soll der wild mit den Armen gerudert haben. Non, non, non! Patrick David wusste: Das wäre, wie wenn ein Weisser in Harlem James Brown covern würde. Die Franzosen waren hingerissen. Hunger schloss mit dem Songtitel auf Schweizerdeutsch: Verlah mi nöd.
Am Mittag nach dem Londoner Konzert sitzt Hunger fast zu pittoresk am Tisch mit Tee und nassen Haaren. In der Frühe ist sie durch die Stadt gelaufen, besuchte Shakespeares Globe-Theater und hat für ihren Vater das Portal fotografiert, während die Band ihren Kater schlafen legte. An diesem Mittag sagt sie zwischen zwei Schlucken: Ich habe nur über Imitationen singen gelernt. Ohne Gesangsunterricht. Als Teenager war ihr Spiel: zu einem laufenden Song so mitsingen, dass es keiner merkt. «Georgia» von Ray Charles gelang ihr perfekt.
In Zürich kann man bereits mit Leuten sprechen, die vom ersten Mal erzählen. Vom ersten Mal, diese Sängerin gesehen zu haben. Meistens im Helsinki, diesem kleinen, von Tom Rist nachhaltig wie klug programmierten und preisgünstigen Klub in der Amüsierhölle des Industriequartiers. Dort sah Hunger das oft wöchentlich auftretende Aad Hollander Trio from Hell. Sang mal mit, sang fast immer mit. «Ich wohnte in der Nähe bei meinen Eltern und hatte nichts zu tun.» Dort spielte sie mit ihrer Band Fisher, dort probierte sie mit dem akustischen Projekt Sophie Hunger die ersten Schritte.
Auf keinen Schweizer Act wird man zurzeit öfter angesprochen als auf sie. Und jeder erzählt von einem Konzert, keiner von einem Tonträger. Der Lokalstolz mag mitspielen, aber man hat es auch in London gesehen: Hunger hat etwas, das die Leute nicht begreifen. Denn sie kommen immer wieder.
Fast wie im Film. In «Mein Freund» von Micha Lewinsky, der am 17. Januar in die Kinos kommt, spielt Emilie Welti Larissa Mahler, die Sophie Hunger im Helsinki-Klub spielt. Protagonist Emil (Philippe Graber), der wie ein Maturand um 1960 aussieht und also verklemmt wirken soll, setzt sich an die Bar und schaut verliebt zur Bühne. WeltiMahlerHunger spielt Gitarre und singt. Der Zeitunterschied, bedingt durch die langsame Produktionsweise im Filmgeschäft, springt ins Auge. Man sieht eine jüngere, unsicherere Sophie Hunger. Ihre Figur Larissa nimmt sich das Leben, und der Student gibt vor der Trauerfamilie im Auftrag der Selbstmörderin vor, ihr Freund gewesen zu sein, verliebt sich aber in ihre Schwester (Johanna Bantzer). Eine folgenreiche, groteske Situation. Aber der Film bleibt darin stecken, bildet Melancholie gleichförmig melancholisch ab.
Interessant für Hunger-Fans ist die Deckungsgleichheit von Realität und Fiktion. Nicht nur, weil sie mit Marcel Vaid die Filmmusik geschrieben hat. Sondern weil Emils Blicke auf die Bühne in jedem Hunger-Publikum leicht zu entdecken sind.
Als ich Hunger das erste Mal live singen hörte, wusste ich nichts über ihre Herkunft aus gutem Haus, über ihre internationale Jugend in London, Bern, Bonn, Zürich. Klar war nur: Hier brennt ein Mensch, ohne zu verbrennen. Weil er verbrennen spielt. Was nicht fake heisst, sondern: Distanz aus grosser Nähe. In der Pophistorie ist das bekannt und ein wiederkehrendes Zeichen von gutbürgerlicher Abstammung, von der Selbstverständlichkeit im Umgang mit Bildung. Mit Kunst, mit reflektierter Distanz, die deswegen nicht kühl sein muss. Entscheidend ist die Selbstverständlichkeit: Nur Emporkömmlinge prahlen steif mit dem Erworbenen. Das gilt nicht nur für Geld, sondern auch für die kulturellen Werte. Wer sie schon zu Hause mitkriegt, hat keine Angst vor ihnen. Und muss sie deshalb auch nicht überhöhen wie ein Geheimnis, das man vorgibt, gelüftet zu haben. Die Popgeschichte ist da ungerecht. Der Underdog stirbt an seiner übertriebenen Ernsthaftigkeit, die Elite überlebt dank ihrem Wissen um die Welt als Spiel. Sid Vicious ist seit dreissig Jahren tot, Privatschüler Johnny Rotten nicht.
Emilie Weltis Ernsthaftigkeit gilt es nicht infrage zu stellen (an ihren bisweilen karikaturesk guten Manieren gibt es erst recht keine Zweifel). Nach der Matur lebte sie ein Jahr lang in einem besetzten Haus unweit der Zürcher Universität, in London ruft sie fröhlich: «Let’s go and eat junk food!» Sie stopft sich den fettig frittierten Fisch rein und lacht ob seiner enormen Grösse. Welti ist wirklich kein Snob. Aber ein Underdog spricht nicht über schlechtes Essen. Er isst es einfach.
Wäre Welti nicht so geübt in der Wahrnehmung der Welt als eine der Möglichkeiten (und nicht so unverschämt begabt und willensstark), sie könnte als Sophie Hunger nicht diesen Gratzug begehen zwischen Unmittelbarkeit und Kontrolle. Es ist das alte Ding des begrenzten Exzesses. Man hört das auch. Wie sie die Silben dehnt, im Rhythmus nur scheinbar schwankt, mal wie betrunken phrasiert, dann den Schlag präzis in den Kopf sticht. Vor allem aber: dies immer wieder anders tut. Im Konzert meint man manchmal, sie könne jederzeit einen Fehler machen. Das Prekäre des Vortrags hat mit ihrer Risikofreudigkeit zu tun, mindestens so sehr auch mit dessen Inszenierung. Man kommt vielleicht immer wieder, weil man sehen will, ob sie das schafft. Und geht dann noch mal hin, weil man weiss, dass gerade sie das schaffen wird.
NIEMAND, NIE, NICHTS
Mit Berechnung hat das alles wenig zu tun. Nicht im Alter von 24 Jahren. Das wäre überirdisch. Aber Emilie Welti weiss, dass man von Sophie Hunger zurzeit immer Aussergewöhnliches erwartet. Sie schreibt in einem E-Mail nach unserem Treffen: «Keywords: Immer/Ausserordentlichkeit/Erwartung». Und dann, ein tatsächlich aussergewöhnlicher Satz für einen jungen Popstar in the making: «Absurderweise kann man nur dann wahrhaftig sein, wenn man als niemand nie nichts erwartet.»
In London performt sie zwei Möglichkeiten, dem Paradox der Erwartung des Unerwarteten zu begegnen. Eins: die Erwartung herunterspielen. «In London wartet niemand auf ein Mädchen aus der Schweiz, das ihnen erklärt, was Liebe ist.» ähnlich normalisierend, bestimmt gesund für einen entzündeten Geist erscheint dies: «Die Musikwelt ist sehr beschränkt, der Alltag wie im Militär: Meistens wartet man, trinkt und raucht. Plötzlich heisst es eins, zwei, drei, vier, Angriff, für 62 Minuten setzt man sein Leben aufs Spiel. Dann geht man nach Hause, trinkt Verveinetee und bringt das Altpapier runter.»
Die zweite Möglichkeit hat sich über die Jahrzehnte bewährt: spielen, spielen, spielen, nicht aufhören, nicht nachdenken. Das zweite Konzert in London hätte fast nicht stattgefunden, weil der Laden kurz davor niedergebrannt war. Doch Evelinn Trouble fand Ersatz. The Glad ist eine kleine Klitsche um die Ecke der Borough-Station. Kein Eintritt, keine Gage. Die Vorband ist bereits auf der Bühne, zwei Mädchen schrummen ein paar kraftlose Dissonanzen und singen wie ein Kamillentee ohne Beutel. Vielleicht zwanzig Leute lärmen derweil wie vierzig. Dann kommt Sophie Hunger. Sie singt:
—
It’s four in the morning and here comes the push
The longing desire, the tickle, the wish
It’s four in the morning and the rush doesn’t leave
The rush in your blood that wouldn’t believe…
That we might be wrong
And everything doesn’t mean anything at all
—
Der Song heisst «Züri», es geht um den Moment, in dem zwei Leute am Seeufer nicht wissen, ob sie nur der Schönheit des Moments oder doch auch ein bisschen einander erliegen. Hier, im The Glad, versteht das Publikum jedes Wort. Und schweigt. Später, beim sprechartigen, Dylan-verwandten «Sophie Hunger Blues», lacht es. Hunger spielt ihn ganz anders als am Abend zuvor. Und die Band will nicht mehr nach Hause. Alle fliessen etwas über, die Herzen weiten sich. Weil: Hunger gibt ein wunderbares Konzert für eine Handvoll. Dann sitzen wir in der U-Bahn. Alle sind erhitzt. Flury wippt vor sich hin, Prader strahlt, Trouble ist gar nicht erst für die Rückreise zu bewegen. Nur Sophie Hunger scheint ruhig. Im Zug schlägt sie sofort ein Buch auf. Erzählungen von Dostojewski.
••••••••••••••
Als sie im Sommer in Montreux gespielt hat, verharrte der Saal dermassen in Andacht, dass die Ventilation eines Scheinwerfers akustisch zu stören begann. Es gab da von Sophie Hunger noch gar keine richtige CD. Und doch umgab die Zürcher Sängerin ein Schein aus Hoffnung, Bewunderung und laut getuschelter Berühmtheit. Auf Englisch nennt man das «buzz», mit einem langen stimmhaften s. Das klingt wie die Mücken, die massenhaft zur Lichtquelle fliegen, ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Buzz.
Das Licht der Kunstfigur Sophie Hunger, eine Folksängerin ohne Folkbotschaft, hatte bislang nur auf der Bühne gebrannt. Ein Produkt ohne Produkt. Und eine extrem reale Täuschung: Viele haben sich gefragt, ob sie nun frühreif abgebrüht oder doch gefährlich vital sei. Echt oder künstlich. Sicher war bisher nur, dass die 25-jährige Zürcherin eine Gefolgschaft hat, die diese Frage immer wieder neu stellt. Live, in der Melancholy Church of Hunger.
Und jetzt ist das Produkt da, eine, wie man so sagt: professionell produzierte CD. Und nur der «Sophie Hunger Blues», diese lustige Bob-Dylan-Parodie-Slash-Umarmung, kündet noch vom Livesound eines Demotapes. Am Rest wurde ganz schön gearbeitet, hier noch leichtes Streichzeug, da noch eine Gitarre mehr oder ein Vibrafon dazu, die Bläser immer unaufdringlich. Manche Arrangements haben an Varianz und dank Schlagzeug auch an federndem Druck gewonnen, fast nichts wurde klanglich eingesuppt. Und die Songs sind so gut, dass man das Ungütesiegel Schweizer Musik streichen kann.
Trotzdem könnte man «Monday’s Ghost» als eine Katastrophe bezeichnen. Nicht, weil die Platte ein schlechtes Produkt wäre. Nein, die Katastrophe gründet darin, dass der Alltag eines Tonträgers der Sophie-Hunger-Experience ihr bislang Wichtigstes raubt: die Andacht, die Kirche. Den Kunstrahmen.
Sophie ist jetzt vielfach in der Welt angekommen. In den Stuben, in der Küche, im Auto, im Büro. Zu dieser Musik wird die Steuererklärung nachgebessert werden und die Wäsche aufgehängt. Die Vorstellung, dass der Tonträger sich auch auf ein leeres Wohlgefühl reduzieren liesse: Das ist die Katastrophe.
Es ist dann die Stimme, die sich der beiläufigen Konsumierbarkeit in den Weg stellt: Sie betont zu eigen, ihre Muskeln zeigt sie zögerlich, manchmal opfert sie die Artikulation dem Sound. Diese Platte schreit höflich nach Aufmerksamkeit. Vor den Boxen, in den Kopfhörern, alleine am Tisch. «Monday’s Ghost» hat mich erst gekriegt, als die konzertante Situation im Privaten wiederhergestellt war.
«Protest Song» zum Beispiel ist ein Lied über die Unmöglichkeit, ein Protestlied zu schreiben. Ich war nie jung und du wirst nie alt, singt Hunger auf Englisch. Jung klingt «Monday’s Ghost» tatsächlich nie. Nichts ist klar, vieles handelt von Nicht-Identität. Niemand, nichts, nothing, nüt: Lieblingswörter von Sophie Hunger. Mit dieser Sängerin lässt sich wirklich keine Jugendkultur verkaufen.
«Spiegelbild», ein von Hunger verfasstes Volkslied über die Liebe, die nie ganz deckungsgleich sein kann, glänzt zum Schluss dann doch noch mit Marktgespür. Es ist ein Duett mit Stephan Eicher. In Frankreich kümmert sich der Plattenmulti Universal um Sophie Hunger. Und vielleicht verspricht man sich davon ein zweites «Hemmige», wie damals, als Eicher mit dem Mundartlied von Mani Matter die Franzosen um den Finger gewickelt hat.
Und vielleicht zeigt man in Frankreich auch mehr Finesse, als nach der Echtheit dieser Sängerin zu fragen. Nicht im Land von Roland Barthes, der die Zwiebelmetapher berühmt gemacht hat: Wie sehr wir auch zum Zentrum – eines Buches, eines Autors, einer Künstlerin – vordringen möchten, wir häuten immer nur Schicht um Schicht. Wie bei einer Zwiebel eben. Am Ende gibt es keinen Kern. Aber Tränen. Die sind echt.
••••••••••••••••••••••••••
NZZ
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
DIE MUSIK IN DEN WÖRTERN
Die Folk-Sängerin Sophie Hunger und ihr zweites Album, «Monday's Ghost»
Ueli Bernays
Ihre Musik fängt an mit Wörtern: «Die Wörter kommen einfach», sagt Sophie Hunger. Sie kommen beim Schreiben, beim Komponieren. Dabei wird gleich klar, in welcher Sprache die 25-Jährige einen Song singt – die Wörter kommen manchmal aus dem Englischen und manchmal aus der Mundart; bisweilen singt sie auch auf Hochdeutsch – aber das sei schwierig: Wenn sie deutsche Lieder schreibe, spüre sie die ganze Literaturgeschichte auf sich lasten.
Die Inspiration
Tatsächlich scheint sie von Literatur stärker beeinflusst als von Musik. «Ich höre nicht gerne Musik» – weil sie sich dann nicht recht konzentrieren könne auf die eigene. Wenn sie Musik höre, dann immer die gleichen sechs, sieben Platten – von Nina Simone, Bob Dylan, Jeff Buckley, Radiohead oder von Kashmir. Zwar gibt es auf Sophie Hungers neuem Album «Monday's Ghost» ein Stück wie «Sophie Hunger Blues», bei dem es sich tatsächlich um eine originelle Auseinandersetzung mit Bob Dylan handelt. Öfter aber werde sie eben von Wortkünstlern inspiriert – von Anton Tschechow etwa, von Robert Walser und Jürg Halter (alias Kutti MC). Kürzlich sei ihr eine Aufnahme der dänischen Dichterin Inger Christensen zu Ohren gekommen – «das ist etwas vom Schönsten, was ich je gehört habe, die Stimme, die Verse gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, obwohl ich kein Dänisch verstehe». Aber in den Lauten der Wörter, in den Rhythmen der Sätze steckt eben Musik.
Hunger findet, das Schönste beim Singen sei das Betonen der Wörter. Wer sie jemals gehört hat, weiss, wie sie – die beim Reden stockt, Silben verschluckt und ihre Sätze abreissen lässt – beim Singen sich Sprache geradezu einverleibt, wie sie Wörter auskostet und sich Zeit nimmt für die Laute, wie sie ihnen Klang einhaucht und Hitze, bis sie brennen und berühren. Dabei können sich Gefühle in ihren Folk-Songs, die manchmal rockig daherkommen und sich manchmal an Volksmusik anlehnen, auch dramatisch stauen, bis die Stimme sich überschlägt und ausbricht in Zorn oder Übereifer.
«Im Konzert will ich, dass jedes Wort wichtig ist, dass man jedes Wort genau hört, dass es klingt, wie es soll – und je nach Betonung ändert es die Bedeutung», sagt Sophie Hunger. Es ist nun nicht so, dass sie die Bühne deshalb liebt. In der Westschweiz und in Frankreich fühle sie sich an Konzerten zwar ziemlich frei. In der Deutschschweiz hingegen habe sie ein eigenartiges Verhältnis zum Publikum. Sie bilde sich ein, dass gerade ihr rascher Erfolg überall Skeptiker und Zyniker auf den Plan gerufen habe, die nun auf ihr Scheitern lauerten – tatsächlich wird Hunger bis anhin ja nicht nur von der Kritik fast einstimmig gefeiert, sie geniesst auch die Unterstützung von Musikern wie Stephan Eicher (mit ihm singt sie auf «Monday's Ghost» das Mundart-Stück «Spiegelbild») und den legendären Young Gods. Trotz gewissen Krämpfen aber braucht Hunger die Bühne. Weil sie stets zu den Leuten singe: «Ich habe auf der Bühne keinen anderen Gedanken als das.»
Damit ist ein Problem angesprochen. Hunger mag das Singen im Studio nicht. Das Studio sei ein «Horror», ein «Blödsinn» – es fehle das Gegenüber, welches das Singen zur lebendigen Kommunikation mache. Die Aufnahmen scheinen sie überdies auch dadurch zu irritieren, dass der Spielraum möglicher Interpretationen plötzlich einer einzigen Fassung geopfert werden muss. «Warum hast du das so gesungen, das stimmt so ja gar nicht, so singst du das sonst doch gar nicht – sage ich mir jeweils.»
Deshalb spricht sie nun auch mit gemischten Gefühlen von ihrer zweiten CD «Monday's Ghost». Einerseits treibe sie im Moment gerade Unzufriedenheit an, auf ein nächstes Album hinzuarbeiten und neue Songs zu schreiben. Andrerseits ist sie doch auch etwas stolz auf das neue Werk, auf die vierzehn Songs von «Monday's Ghost», die zunächst fast unschuldig anmuten in den lockeren Rhythmen und den ebenso warmen wie originellen Arrangements – bis sie plötzlich mitten ins Gemüt treffen. So geht es einem oft mit Sophie Hunger. Ihr Gesang mag vermeintlich dezent scheinen dank der stimmigen Phrasierung und der kontrollierten Dynamik. Und plötzlich steckt einen Hunger an mit ihrer fiebrigen Stimmung. Und man wird fast süchtig nach ihrer differenzierten Expressivität, die Spannung schafft zwischen zart und zornig.
Sophie Hungers Musikalität und Virtuosität wirkt so natürlich und selbstverständlich, dass man meinen könnte, sie habe von Kindsbeinen an nur gesungen und musiziert. Das stimmt aber nicht. Geboren in eine Diplomatenfamilie, die erst in England und Deutschland lebte und sich schliesslich in der Schweiz niederliess (zuerst in Bern, später in Zürich), war Hunger zwar früh fasziniert von Oper, Musicals und Theater. Sie habe die Stars, «die Bergspitzen der Kunst», mit grossem Respekt bestaunt – aber aus weiter Ferne. Denn obwohl sie als Kind Klavierstunden nahm und als Teenager Saxofon spielte, habe sie nicht gewagt, für sich den Beruf einer Musikerin in Betracht zu ziehen – weil in ihrer Familie die Musik «Genies» vorbehalten schien. Und weil dieser Begriff Ehrfurcht erheischte.
Irgendwann nach dem Gymnasium aber ging das musikalische Talent durch mit Sophie Hunger. Ein Gitarrist animierte sie zum Singen, man gründete zusammen eine Band. Die Indie-Gruppe Fisher erfreute sich in der Zürcher Musikszene dann bald einer gewissen Berühmtheit – dank der Sängerin vorab, die an PJ Harvey erinnerte, sich nun aber insgeheim Folk-Songs auf den Leib schrieb. Vor zwei Jahren erschien das Soloalbum «Sketches On Sea». Für dieses Projekt hat Hunger nicht nur Gitarre spielen gelernt; sie hat sich auch mit Begleitmusikern umgeben, die heute einen festen Kern und eine Art familiäre Szene bilden. Dazu zählt vorab der Posaunist Michael Flury, der seine satten, weichen Töne nicht nur feinfühlig unter Hungers delikate Gesänge legt – seine Posaune setzt dank ihrem leicht ironischen Verhältnis zu altem Swing und Marschmusik auch eine lustig-gemütliche Schwingung in die zumeist melancholischen, um Einsamkeit und illusorische Zweisamkeit kreisenden Songs. Wichtig ist auch der Gitarrist und Sänger Christian Prader, der Hungers Phrasierung feinfühlig folgen kann.
Harmonierende Begleitband
Der harmonierenden Begleitband ist es wohl auch zu verdanken, dass sich Sophie Hunger auf «Monday's Ghost» auch als Arrangeurin profilieren kann. Sie setzt dabei ausschliesslich auf herkömmliche Instrumente – akustische Klänge hätten eben mehr Kraft, findet sie; ausserdem würde sie Elektronik zu klanglichem Firlefanz verführen. Auch so findet sie immer wieder zu frischen Klangfarben – dank ihrem beherzten Klavierspiel, den verschiedenen Gitarren und den zarten Bläsersätzen ebenso wie dank überraschender Latin-Perkussion, tremolierendem Cello und luftigen Vibrafon-Akkorden. Doch obwohl sich die Instrumentierung bisweilen fast orchestral auffächert, wird der Gesang nie zugedeckt. Im Zentrum steht stets Sophie Hungers Stimme, triumphierend und leidend zugleich.