concerto über enrico rava
Melancholie und Neugier
Enrico Rava über sein Album „Easy Living
Ob man bei einem 65-Jährigen schon von einem Doyen sprechen kann? Enrico Rava ist jedenfalls einer der ganz Großen des italienischen Jazz und darüber hinaus ein international anerkannter Trompeter. Vor kurzem hat er – wie er auch selbst meint – mit der CD „Easy Living“ sein bisheriges Meisterwerk veröffentlicht.
Es müssen ein paar ganz besondere Tage im Juni des Vorjahres gewesen sein, die Enrico Rava mit seiner Band im Artesuono Studio im norditalienischen Udine verbrachte. Die dabei entstandene Musik atmet große Ruhe und Abgeklärtheit, ohne auch nur einen Augenblick den Fokus zu verlieren. Hier sind fünf Instrumentalisten am Werk, die sich locker zwischen Freiheit und Struktur bewegen und mit wenigen wohl gesetzten Tönen eine dichte Atmosphäre erzeugen.
Kurz vor den CD-Aufnahmen hatte das Enrico Rava Quintet einige erfolgreiche Gigs im berühmten New Yorker Blue Note Club absolviert – sicher nicht die schlechteste Vorbereitung auf einen Studiotermin. Die seit vier Jahren bestehende Formation weist neben dem erfahrenen Rhythmusgespann Rosario Bonaccorso (Bass) und Roberto Gatto (Schlagzeug) zwei viel versprechende Jungspunde auf, von denen man noch viel hören wird: den spritzigen und eigenständigen Pianisten Stefano Bollani und das 28-jährige Posaunentalent Gianluca Petrella. Es ist aber der weiche, oft melancholische Trompetenton Enrico Ravas, der dieser Band den Stempel aufdrückt: geschwungene, weit ausholende Linien, die zwar in der Tradition gründen, aber oft unerwartete Wendungen nehmen; eine faszinierende Mischung aus gestalterischer Kraft und Zerbrechlichkeit.
Zurück bei ECM. Der Trompeter hat sein neues Werk zwar nach einer der schönsten Balladen des Great American Songbook benannt, alle anderen acht Kompositionen auf „Easy Living“ stammen allerdings von ihm: so etwa „Sand“, das von Juan Tizols „Caravan“ inspiriert scheint, oder die Ornette- Coleman-Hommage „Hornette And The Drums Thing“. Mit „Blancasnow“ findet sich auch eine Reminiszenz an Ravas ECM-Debüt aus dem Jahr 1975 auf der neuen CD – vielleicht eine kleine Reverenz gegenüber Produzent Manfred Eicher, denn Enrico Rava, der in den 70er und 80er Jahren einer der zentralen ECM-Künstler war, hat seit 1986 („Volver“mit Dino Saluzzi) kein Album mehr auf dem Münchner Edel-Label veröffentlicht. Etwa zeitgleich mit „Easy Living“ ist eine Rava-Biografie unter dem Titel „Note necessarie“ erschienen, die allerdings vorerst nur in der italienischen Version vorliegt. Mike Zwerin schrieb vor nicht allzu langer Zeit: „Man kann sagen, dass der zeitgenössische italienische Jazz mit Enrico Rava begonnen hat“. Rava ist heute, mit 65 Jahren, ein arrivierter Jazzer, der sich seiner Verantwortung gegenüber dem Publikum wie auch gegenüber seinen Sidemen bewusst ist, der sich aber auch eine unbändige Neugier bewahrt hat, welche vor Selbstgenügsamkeit und Stillstand schützt. Vielleicht die treffendste Beschreibung seines individuellen Stils kann man in der Beurteilung der Jury des Jazzpar Preises finden, welchen der Trompeter 2002 erhielt: „Rava kann stilistisch nicht einfach festgelegt werden. Er kann feurige und lyrische Linien spielen und ebenso romantische Stimmungen schaffen. Manchmal gleiten seine langsamen, kreisenden, Bop-artigen Linien in freie Gefilde. Seine Phrasen verschleift er oft am Ende, und er verwendet auch halbgedrückte Ventile oder andere Stilmittel, um eine lyrische oder gewagte Stimmung zu erzeugen.“
CONCERTO bat Enrico Rava zum Interview.
Stimmt es, dass du als Posaunist in einer Dixieland Band angefangen hast?
Ja, ich habe ungefähr ein Jahr lang Posaune gespielt, aber man kann sagen, ich habe damals nicht wirklich ein Instrument gespielt. Es war dann nach einem Konzert in Turin, wo ich Miles Davis mit Lester Young hörte, als ich anfing, autodidaktisch die Trompete zu lernen. Wie wichtig ist die Jazztradition für dich? Sehr wichtig. Die beste Jazzmusik im letzten Jahrhundert fing für mich so ca. 1925 an und reicht bis 1967 – von Louis Armstrong bis Miles Davis. In dieser Zeit war eine unglaublich große Zahl an wunderbaren Musikern am Werk: Charlie Parker, Coleman Hawkins, Miles Davis, Thelonious Monk, Louis Armstrong, Billie Holiday, Duke Ellington … Ich könnte noch den ganzen Abend Namen aufzählen, wenn du möchtest. Sie waren Genies. Was sie geschaffen haben, war bedeutend für die Musik, für die Menschlichkeit, für alle von uns, denke ich.
Du bist seit vielen Jahren ein internationaler Künstler, aber manche Leute finden, dass es einen speziellen „italienischen Touch“ in deiner Musik gibt. Ist der italienische Jazz anders?
Nein, das glaube ich nicht. Was mich angeht, habe ich vielleicht viele Melodien im Kopf, die auf italienische Wurzeln zurückgehen. Aber auch Chet Baker zum Beispiel hatte gewisse Melodien im Kopf …
Vor ca. 40 Jahren hast du einige Zeit in New York verbracht und dort mit MusikerInnen wie Steve Lacy, Carla Bley, Cecil Taylor, Roswell Rudd, Lee Konitz usw. gespielt. Hat dieser New-York-Aufenthalt aus heutiger Sicht eine Wende in deiner Karriere bedeutet?
Ich war 10 Jahre in New York, für mich war das sehr wichtig. Alleine die Stadt New York, ihre Energie und die Chance gehabt zu haben, mit einigen der größten Jazzer zusammenzuspielen, dieses Leben zu leben, war einfach wichtig. Es half auch meiner Karriere. Medial wurde viel über mich berichtet, sogar in Japan, und als ich 1978 nach Hause zurückkam, war alles viel besser für mich. Ich verdiente mein Brot etwas leichter als zuvor. New York war definitiv ein Wendepunkt in meiner Karriere.
Wie entwickelt sich deiner Meinung nach der Jazz? Stagniert er, oder gibt es für dich auch interessante neue Strömungen?
Es gibt immer interessante Entwicklungen im Jazz. Ich persönlich finde jedoch, dass wir uns doch ein wenig in Stagnation befinden, wenn man es mit den vorhin erwähnten großen Zeiten des Jazz in den 30er, 40er und 50er Jahren vergleicht. Aber das ist ganz normal. Jede Kunst hat Höhepunkte und Stagnationen. Wir in Italien hatten zum Beispiel die Renaissance, danach herrschte Stagnation. Es ist ein Auf und Ab. Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde soviel produziert im Jazz, dass wir jetzt Zeit finden müssen, um das sozusagen zu absorbieren. Zurzeit höre ich zum Beispiel sehr viel Louis Armstrong, und seine Musik ist noch immer unglaublich für mich. Wir schreiben jetzt das Jahr 2004 und ich glaube, die meisten Leute haben noch nicht verstanden, was er gemacht hat. Und das ist jetzt bald 80 Jahre alt. Ich glaube, er legte bereits 1926 den Grundstein für den Bebop, auch für Rap, Funk, Soul. Wir benötigen also noch einige Zeit, um diese Musik, die damals entstand, zu verarbeiten.
In der Presseaussendung zu deinem neuesten Album „Easy Living” wirst du mit dem Satz zitiert: „Ich finde, es ist bei weitem die beste Platte, die ich jemals gemacht habe.“ Was macht sie so besonders?
Ich liebe das Album, denn ich hatte Spaß beim Aufnehmen, und ich habe noch immer Spaß es zu hören. Normalerweise, wenn ich ein Album produziert habe, mag ich es zwei oder drei Tage, aber dann kann ich es nicht mehr hören. Aber dieses Album kann ich hören, ohne dass ich darunter leide (lacht). Und das ist selten. Ich habe nur ungefähr fünf Alben, die ich noch immer hören kann. Eines davon ist „Opening Night”, welches niemals auf CD erschienen ist. Ein weiteres Album war das über „Carmen”. Und ich liebe auch das erste Album, das ich für ECM aufgenommen habe („The Pilgrim And The Stars“, Anm.). Du stehst im Ruf, ein Gespür für talentierte junge Musiker zu haben, die du in deine Bands holst – wie z.B. Franco d’Andrea in den 70er Jahren und jetzt Stefano Bollani und Gianluca Petrella …
Haben erfahrene Musiker wie du eine gewisse Verantwortung, diesen „Young Lions“ die Gelegenheit zu geben, sich einem größeren Publikum zu präsentieren?
Vielleicht ein wenig, das kann sein. Aber der Hauptaspekt für mich ist die Zusammenarbeit mit Musikern, die ich mag. Sie können alt oder jung sein. Ich bemerke aber, dass jüngere Musiker mehr auf meine Musik reagieren. Ich weiß nicht warum, vielleicht sind jüngere noch offener?
Arbeitest du noch mit dem Italian Instabile Orchestra?
Nein, nein. Ich habe nur einige wenige Auftritte mit dem Italian Instabile Orchestra gemacht. Ich mag es nicht. Ich habe ein paar Freunde im Orchester, die mich baten mitzuspielen, da Giorgio Gaslini das Orchester verließ und sie einen populären Musiker dabei haben wollten. Aber ich mag die Musik nicht und ich spiele auch nicht gern in einem Orchester. Da habe ich zu wenig Platz, um mich zu entfalten.
Was sind – außer deinem Quintett – derzeit deine Hauptaktivitäten?
Ich spiele sehr viel im Duo mit Stefano Bollani. Dann habe ich ein Duo mit einem anderen italienischen Pianisten namens Dado Moroni. Und eben mein Quintett. Ich spiele so ungefähr 100 Konzerte im Jahr und davon die meisten im Juli und August. Jetzt bin ich schon ziemlich erschöpft und freue mich auf eine Pause.
Und deine nächsten Pläne?
Ich arbeite ab nächster Woche bereits an neuen Tunes für unsere neue CD, ein Trio- Album, das auf ECM erscheinen wird. Ich werde es mit Stefano Bollani und Paul Motian im November in New York aufnehmen.