Günther Pallaver
Zum 100. Geburtstag von Claus Gatterer
Im Zweifel auf Seiten der Schwachen
Claus Gatterer 1924 – 1984
Gäbe es nicht den Gatterer Pressepreis, die Auszeichnung für hervorragenden Journalismus im
Gedenken an “den großen Südtiroler Journalisten, Historiker, Schriftsteller und
Dokumentarfilmer,” der jedes Jahr in Sexten vergeben wird, Claus Gatterer, Jahrgang 1924,
wäre heute wohl fast vergessen.
Die Verleihung der Auszeichnung erfolgt für journalistische Leistungen, die sich im Sinne
Gatterers “durch kritisches Hinterfragen, soziales Engagement und hohes stilistisches Niveau”
auszeichnen. Das waren, kurz zusammengefasst, die markantesten Eigenschaften von
Gatterers journalistischem Arbeiten. Wenn er fast vergessen ist, dann vielleicht auch deshalb,
weil sich der Journalismus von den ethischen Leitlinien des Berufs ziemlich entfernt hat. Der
Vorwurf gilt bei Weitem nicht für alle, aber die Phalanx all jener, die schreiben, senden, posten
ohne zu hinterfragen, ohne soziales Engagement und ohne stilistisches Niveau ist
unübersehbar geworden.
Aber Gatterer hatte eine zusätzliche, persönliche Eigenschaft, die er immer wieder selbst
ansprach, das war die Neugier und das Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Diese seine Eigenschaften zeigte er bereits bei Kriegsende 1945. Der schmächtige Bauernbub,
ältestes von neun Kindern, hatte in seinem Heimatort ein Gerücht über die Alpbacher
Hochschulwochen gehört und war auf Schleichwegen illegal und mühselig über die Jöcher zum
Veranstaltungsort gekommen. “Aus Neugier”, wie er sagte, erzählte der Zeichner, Karikaturist
und späterer Freund Gatterers, Paul Flora (1922-2009).
In Sexten hatte er die italienische Volksschule besucht, dann die Oberschule im Vinzentinum
in Brixen. Die Gatterers hielten nichts von den Versprechungen der Nazis und optierten 1939
nicht für die Auswanderung ins Deutsche Reich, sondern blieben auf ihrem kleinen, kargen
Höfl. Kurzzeitig war Gatterer ab 1943 an der Universität in Padua inskribiert, “lettere e
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filosofia,” schloss das Studium aber nicht ab, weil er sich ab Kriegsende dem Journalismus
zuwandte.
Er war am Aufbau der Südtiroler Volkspartei beteiligt und arbeitete für den Volksboten und die
Tageszeitung Dolomiten. Ab 1948 schrieb er für die Tiroler Nachrichten. Anschließend
wechselte er von 1954 bis 1957 zu den Salzburger Nachrichten, die schon damals den
Anspruch erhob, keine Regionalzeitung zu sein. Von 1958 bis 1961 war er stellvertretender
Chefredakteure der Monatszeitschrift Forum. Als der Wiener Journalist Günther Nenning
(1921-2006) im Jahre 1959 in die Redaktion des Forums kam, gab es nur einen einzigen
Schreibtisch für die “Dreisiedler:” Gatterer arbeitete von neun bis dreizehn Uhr, Nenning von
dreizehn bis 17 Uhr und der Chef, der legendäre Friedrich Torberg (1908-1979), von 17 Uhr
bis zum Aufbruch ins Theater.
Das Forum war nicht die erste journalistische Gehschule Gatterers, hinterließ aber bedeutende
Spuren bei ihm. Der ehemals katholisch geprägte Bauernbub verband seine konservative mit
jener liberalen Grundhaltung, die ihn anleitete, nicht für, sondern gegen die bestehenden
Verhältnisse aufzutreten. Nicht etwa aus revolutionärem Antrieb, sondern aus einem
konservativen Sinn für Anstand, Sitte und Gerechtigkeit, wie sich Nenning äußerte. Im Forum
schrieb Gatterer auch vier große Beiträge, in denen er die Geschichte der Brennergrenze
aufarbeitete, 1962 mit dem Titel: “Der Freund stand links.” Damals gab es einen intensiven
Dialog zwischen Christentum und Sozialismus. Es war jenes persönliche Wechselspiel von
Distanz und Einfühlung, denen sich Gatterer all seinen Themen annäherte.
Ab 1958 bis 1961 arbeitete er als stellvertretender Chefredakteur beim Express, danach bis
1976 als Leiter des Ressorts Außenpolitik bei der Tageszeitung Die Presse. Stundenlang, wird
berichtet, hing er am Telefon und recherchierte zur italienischen Innenpolitik. Trotz seiner
Distanz zum Kommunismus fand er in dessen Falten nicht nur den Bankrott, sondern auch das
Edle. Es gab damals wahrscheinlich kaum einen präziseren, auch einfühlsameren Journalisten
des italienischen Kommunismus. Wie heute bei Papst Franziskus prognostizierte Gatterer
schon damals eine kommunistisch-marxistische Papstverehrung.
Nach der Presse arbeitete er als free lance für den ORF und die Wochenzeitung Die Zeit. 1972
wurde er ständiger Mitarbeiter des ORF, ab 1974 bis zu seinem Tode 1984 leitete er das
kritische TV-Magazin teleobjektiv.
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Teleobjektiv, machte Gatterer definitiv bekannt, weil er zum Bürgerrechtler im besten Sinne
des Wortes aufstieg, damit aber auch die TV-Gesellschaft spaltete. teleobjektiv zeigte
jedenfalls einprägsam die journalistischen Qualitäten Gatterers. Kurt Langbein, einer seiner
jungen Mitarbeiter, meint, Gatterer sei eigentlich nicht ängstlich gewesen, wohl aber habe er
immer an allem gezweifelt, ganz in der Tradition der europäischen Kultur, alles in Zweifel zu
ziehen: de omnibus dubitandum. Gatterer selbst schreibt einmal darüber. Der “Witz” seiner
Arbeit sei ein “Plädoyer wider die Einäugigkeit, ein Plädoyer fürs Zweifeln an den allzu
gewissen Gewissheiten, ein Plädoyer für die Kritik.” Den ersten Zweifel übte er an sich selbst
aus, hat auch den anderen vorgelebt, das eigene Wirken und Wollen gründlich zu hinterfragen.
Das führte letztlich dazu, dass in keiner Redaktion “so gründlich, fast grüblerisch recherchiert
wurde” wie damals im teleobjektiv, erinnert sich Kurt Langbein.
Toni Spira (1942-2019), eine weitere Mitarbeiterin Gatterers bei teleobjektiv, erinnerte sich,
Gatterer sei kein Held gewesen, kein Ritter ohne Furcht und Tadel, kein schöner glatter
medialer Vorzeigherr, sondern ein “radikaler, liberaler, herrschaftskritischer Mensch.”
Gatterere hatte, so Spira, ein feines Sensorium, wenn es um Phrasen und emotionale
Banalitäten ging. Da war er unerbitterlich. Und: Nichts war ihm verhasster als ein lauer
Journalismus.
Wenn Gatterer dann nach der Phase des Zweifels von einer Sache überzeugt war, kam sein
Tiroler Dickschädel zum Vorschein und der anfänglich Zögernde wurde zum Kämpfer.
Interventionen, versuchte Einflussnahme, Drohungen, Zensurversuche, Gerichtsprozesse und
Kampagnen gegen ihn mobilisierten beim kleingewachsenen Mann Energien, die ihn zum
Riesen machten. Nicht von ungefähr nannte man seine Mitarbeiter, das TV-Team der
“Kleinwüchsigen”: Peter Huemer, der spätere legendäre Club2-Chef, Robert Dornheim, der
Wien bald einmal mit Hollywood austauschte, Toni Spira und der “Professor”, wie Gatterer
genannt wurde.
Gatterer wurde in jenen Jahren zum moralischen Bezugspunkt in Österreich. Das Fernsehen
verlöre seinen Sinn, meinte er, “wenn es von Mächtigen für Mächtige, wenn es von Ängstlichen
für Ängstliche gemacht würde.”
Seine Dokumentationen traten vielen auf die Füße, weil sie nach der Wahrheit suchten, weil
sie all jene in den Mittelpunkt rückten, die auf der Schattenseite des Lebens standen, die als
Minderheiten von den Mehrheiten an den Rand gedrängt wurden, weil sie die
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Machenschaften der Mächtigen aufdeckten, die NS-Lebenslüge der Österreicher
demaskierten. Sein Leitspruch lautete: “Im Zweifel auf Seiten der Schwachen.”
Weil er sich für die Kärntner Slowenen einsetzte, protestierten alle Parteien im Kärntner
Landtag. Weil er einen Bericht über Menschenversuche in Österreichs Spitälern ausstrahlte,
torpedierte ihn die Pharmaindustrie. Weil er über menschenverachtende Altersheime
berichtete, protestieren die Sozialträger. “Tatsachen sind nie ausgewogen,” lautete das Credo
seines sozial engagierten Journalismus, der sich gegen den eigenen Intendanten des ORF, Gerd
Bacher, zur Wehr setzen musste. Immer wieder gab es Gerüchte, die Sendung werde
abgesetzt. Immer wieder gab es dagegen Unterschriftenaktionen, Seher%-innenproteste und
Solidaritätsbekundungen der Bürger und Bürgerinnen.
1984 wird die Sendung abgeschaltet, für Gatterer hat Fernsehen keinen Sinne mehr und er
beginnt zu husten. Lungenkrebs. Am 28. Juni 1984 stirbt er, gerade einmal 60. Jahre alt, und
wird in seinem Heimatort Sexten begraben.
Bruno Kreisky (1911-1990), Österreichs Bundeskanzler von 1970 bis 1983, dem Gatterer bei
der Südtiroldebatte vor der Uno 1961 zugearbeitet hatte, würdigte ihn als “einen der
bedeutendsten Journalisten der Zweiten Republik.” Günther Nenning meinte: “Was Gatterer
zu bieten hatte an kritischer Kraft und Gräben überspringender Einfühlung, reicht durchaus,
um in ihm eine große, seltene, leider halb vergessene Gestalt des europäischen Journalismus
zu sehen”. Und Wolf In der Maur (1924-2005), ein langjähriger Journalistenkollege Gatterers,
erinnerte sich, “dass Claus Gatterer im Kreise der in Österreich wirkenden ausländischen
Journalisten oder Diplomaten oft aufmerksamer gelesen wurde als von Österreichern.”
Das war der österreichische Gatterer. Aber der eingebürgerte Wiener blieb Zeit seines Lebens
immer auch Südtiroler. Ein aufgeklärter Südtiroler, der unscheinbar zur Überwindung des
Nationalismus, für das Zusammenleben der Sprachgruppen und für die Befriedung des
Südtirolkonflikts unheimlich viel beigesteuert hat. Das beginnt mit seinen historischen
Schriften und Filmen, die in der Südtiroler Zeitgeschichtsforschung einen inhaltlichen und
methodischen Paradigmenwechsel eingeleitet haben, stellte der österreichische Professor für
Zeitgeschichte, Karl Stuhlpfarrer (1941-2009), fest.
Gatterer suchte immer den größeren Zusammenhang. Das hatte er aus seiner Beschäftigung
mit internationaler Politik gelernt, eines seiner journalistischen Steckenpferde. Und er ging
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vergleichend vor. Er verglich die Geschichte Südtirols mit jener anderer Minderheiten und
sprengte die Jahrzehnte lange Nabelschau der “Volk in Not” und “Land im Leid”
Geschichtsschreibung. Sein Hauptwerk “Im Kampf gegen Rom. Bürger, Minderheiten und
Autonomien in Italien” (1968), belegt meisterhaft, welche Erkenntnisse aus dem Vergleich
gewonnen werden können.
In seiner Beschäftigung mit Geschichte kommt seine Lebensphilosophie zum Ausdruck. Er war
überzeugt: aus der Geschichte kann man lernen, wenn man die Wahrheit sucht. “Die Wahrheit
führt zueinander,” schrieb er in seinem Buch “Erbfeindschaft Italien-Österreich” (1972).
Wahrheit bedeutete aber für ihn, vor allem die eigenen Unzulänglichkeiten schonungslos
aufzudecken. Diese Geschichtsschreibung, die nicht nur die eigenen, sondern vor allem auch
die Argumente der anderen berücksichtigen sollte, kam in seiner politischen Biographie“ über
den Sozialisten und Irredentisten Cesare Battisti (1875-1916) “Unter seinem Galgen stand
Österreich” (1967) zum Ausdruck. Damit korrigierte Gatterer eine doppelte Legendenbildung,
wie der Roveretaner Historiker Fabrizio Rasera nachweist: “Auf italiensicher Seite der
Heldenmythos, die Sichtweise des nationalen Märtyrers, auf österreichsicher Seite hingegen
das abfällige, rein negative Bild des Hochverräters.” Nicht nur bei diesem historisch
schwierigen Thema kommt Gatterers Fähigkeit zur Empathie zum Vorschein, für ihn eine
bedeutende Quelle der Erkenntnis, für das Verstehen der Anderen.
Diese Fähigkeit zur Empathie führte ihn immer hin zu den einzelnen Menschen, zur
mitmenschlichen Dimension, hin zum Einsatz für alle Schwachen und Entrechteten. Diese
seine menschliche Dimension ist meisterhaft nachzulesen in seinem Roman “Schöne Welt -
Böse Leut. Kindheit in Südtirol” (1969). “(Mein) ... Anliegen ist und war der Mensch, sind und
waren die Menschen in der Heimat, in der durch politische, ökonomische und soziale Zwänge
sich verändernden Heimat,” erläuterte Gatterer anlässlich der Verleihung des Südtiroler
Pressepreises im Jahre 1981, über den er sich riesig freute, weil dieser “von daheim” kam.
Aber es war nicht nur seine engere Heimat Südtirol, denn für ihn war Heimat überall dort, wo
Menschen um ihre legitimen Rechte kämpften und sich um ein friedliches Miteinander
bemühten. Nicht umsonst sah Gatterer im Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen ein
ganz erhebliches Friedenspotential.
Das stieß namentlich in Südtirol jener Zeit nicht auf Gegenliebe. Als Gatterer bei einer Rede im
Jahre 1981 von der “Verdammung zum Zusammenleben” gesprochen hatte, warf ihm die
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Tageszeitung Dolomiten vor, er propagiere die Vermischung und sei gegen die Anwendung des
ethnischen Proporzes. Karl Felderer, Autor des Südtiroler Heimatliedes “Wohl ist die Welt so
groß und weit...” sprach aus, was so manche seiner Landsleute dachten: “Macht am Brenner
das Gatter zu, damit der Gatterer nicht mehr hereinkommt!”
Paul Flora meinte zu dieser Abneigung, es sei kein Wunder gewesen, “dass die patriotisch
schwitzenden Fundamentalisten beider Seiten nicht seine Freunde waren und er manches
Gekrächze zu erdulden hatte”.
“Die Wahrheit führt uns zueinander”, hatte Gatterer geschrieben, um die Vorurteile zwischen
Italiener/-innen und Österreicher/-innen abzubauen. Was hätte Gatterer wohl gesagt, wenn
er heute mit der “alternativen Wahrheit” konfrontiert worden wäre?