PURE VERNUNFT darf niemals siegen
Nach einem abgebrochenen Kunstgeschichtestudium in Freiburg landet Anfang der 90er der Hobbymusiker Dirk von Lowtzow in Hamburg, mit dem Ziel, Jura zu studieren. Stattdessen lernt er Jan Müller und Arne Zank kennen und gründet mit ihnen Tocotronic, deren Sänger er wird. Die Musik ist räudig, die Texte wütend-präzise Alltagsbetrachtungen in slogantauglicher Form, und optisch machen die drei auch was her: Cordhosen, Trainingsjacken, enge Werbe T-Shirts und die typische Scheitelfrisur setzen den Indie Look Standard der 90'er. Die interessierte Jugend im deutschsprachigen Raum hat eine neue Lieblingsband, die Medien mit dem Begriff "Hamburger Schule" eine neue Schublade, in der Bands wie die Sterne oder Blumfeld Platz haben.
Lieder schreiben wie Tagebuch führen - das war einmal, und das war auch gut so. Parolen, Slogans, Schlachtrufe, kurz: Sätze, die man sich liebend gerne auf die Stirn tätowieren lassen würde. Nicht umsonst haben Tocotronic auch den Begriff 'Sloganeering' geprägt. Irgendwann hat man sich aber am Alltäglichen, am Tagebuch Schreiben abgearbeitet. Man hat andere Ausdrucksformen gesucht und gefunden, nicht nur textlich, sondern auch musikalisch. Denn wir reden hier immer noch über Pop-Musik. Oder - jetzt wieder verstärkt - über Rock-Musik. Auf jeden Fall aber: über MUSIK.
FM4
Ikonographie
Die Geschichte von Tocotronic ist - nicht nur, aber auch - eine Geschichte vom Erwachsenwerden. Das jugendlich Forsche (siehe auch 'Jugend forscht'), das Ungestüme, die Sturm-und-Drang-Phase der drei aus Hamburg ist schon länger vorbei. 'K.O.O.K' war der Wendepunkt, das selbst betitelte weiße Album von 2002 die Gewissheit, dass es hier eine Band geschafft hat, sich zu etablieren, sich selbst treu zu bleiben, mehr noch: zu Ikonen zu werden und sich dabei trotzdem in einem Maß weiter zu entwickeln, das 1995, als die erste Platte erschienen war, wohl niemand erwartet hätte. Vorbei die Trainingsjacken, vorbei das Geschrei, vorbei die vermeintliche Einfachheit und Eindeutigkeit.
Tocotronic waren zu einer Band geworden, die fixer Bestandteil eines kollektiven Gedächtnisses ist, an der man sich reiben kann, in deren Songs man sich verlieren und - immer noch - selbst finden kann.
Wir brauchen dringend neue Lügen
'Pure Vernunft darf niemals siegen', das mittlerweile siebente Album von Tocotronic, zeigt vor allem eines: dass die treibenden Kräfte hinter dem tocotronischen Schaffen Leidenschaft und Unzufriedenheit sind. Am besten in Kombination. Das, obwohl die Texte poetischer kaum sein könnten. Eine Mischung aus Verklärung und sprachlicher Deutlichkeit kommt hier zur Geltung - ein klares 'Nein' an jene, die meinen, sich über eine neue Ehrlichkeit und Bodenständigkeit definieren zu müssen, ein Lobgesang an die Selbstverschwendung, ein klares 'Ja' an den Wahnsinn
Aus drei mach vier
'Aber hier leben, nein danke' ist die erste Single-Auskoppelung und gleichzeitig der erste Song auf dem Album. Und der gibt die Richtung, in die sich die weiteren Titel bewegen, vor. Eine Hymne an die Poesie und an das Nicht-Alltägliche, gleichzeitig ein Statement. Weniger wegen der politischen Aussage, die man in Anbetracht der in Deutschland grassierenden Rückbesinneung auf 'nationale Identität' hier hinein interpretieren könnte. Sondern vielmehr, weil dieser Song eben als Vorbote von 'Pure Vernu
Let there be Rock
Dass Tocotronic jetzt offiziell ein Quartett sind, sieht man ja sofort, wirft man einen Blick aufs Cover. Und man hört es auch, wenn man sich das Album zu Gemüte führt. Rick McPhail ist jetzt neben Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller der vierte Toco. Nicht zuletzt durch seine zweite Gitarre klingt die Band jetzt gleichermaßen dichter als auch reduzierter. Weil eben Dinge, die früher erst im Studio entstanden sind, gleich im Proberaum ausprobiert werden können. Und als Nebeneffekt klingen Tocotronic 2005 wieder rockiger - nicht wie 1995 wohlgemerkt, das wäre ja ein Rückschritt. Und Rückschritte hat es in der Geschichte von Tocotronic eigentlich nie gegeben. Immer nur ein Weitergehen. Spannend ist der Weg, den sie beschreiten, immer gewesen, und spannend wird er auch bleiben.
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DIE ZEIT
Verknapptes Programm
Die Hamburger Band Tocotronic veröffentlicht am 17. Januar ihr neues Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Zwar hat das langjährige Trio Verstärkung durch den Gitarristen Rick McPhail bekommen, doch die Rückkehr zur Rockmusik fällt eher zurückhaltend aus
„Ihr sollt die Band schlagen und richtig aggressiv aussehen, aber bitte passt auf die Scheinwerferleisten auf, die sind teuer“ – diese Regieanweisung gab es für rund 150 Fans beim Tocotronic-Videodreh im Hamburger Park „Planten & Bloomen“. Was auf den ersten Blick als Widerspruch erscheint, steht für eine neue Haltung der Band zu sich und ihrer Musik. Wieder hin zum Rock, aber bitte mit etwas Bedacht: „Pure Vernunft darf niemals siegen“ heißt das neue Album, das am 17. Januar auf den Markt kommt.
Verglichen mit dem Vorgänger „Tocotronic“ ist damit tatsächlich etwas gänzlich Neues entstanden. Statt klanglicher Experimente aus dem Studio verfolgte die Band den Weg zurück zum puren Gitarrensound. „Dieses Mal haben wir haben in der Beschränkung nach dem Ausdruck gesucht“, erklärt Schlagzeuger Arne Zank.
Schaut man noch ein wenig weiter in der Bandgeschichte zurück, so kommt einem die Musik vertraut vor, nur die Extreme fehlen. Auf „Pure Vernunft darf niemals siegen“ finden sich weder unendlich langsame Stücke wie „Samstag ist Selbstmord“ noch so turbulente Stücke wie „Gehen die Leute (auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam)“. „Pogo tut einem zu sehr weh“, fasst Arne lakonisch zusammen, und Gitarrist Rick McPhail ergänzt grinsend: „Das gibt Schmerzen im Nacken ...“
Schmerzfrei hingegen lässt sich das neue Album hören. Beim Tanzen reichen rhythmische Bewegungen, ruckartig oder gar im Pogo-Stil muss da niemand mehr auf der Tanzfläche zappeln. Und dennoch: Die erste Single-Auskopplung „Aber hier leben, nein danke“ ist zumindest textlich der Inbegriff des Protestes. Frontmann Dirk von Lotzow hatte den Song mit einer privaten Aussage begonnen, doch im Laufe der Zeit hat sich die politische Komponente immer mehr in den Vordergrund geschoben.
Richtig auf die Nerven geht Tocotronic der Konsens in Deutschland, sagt Zank, „ein unverkrampftes Verhältnis zur Nation herbeizureden“. Das Ekelhafte daran seien Tabubrüche a là „Man muss doch sagen dürfen, dass man auf Deutschland stolz ist“. Systemkritik ist gewollt und darf gerne destruktiv sein: „Es ist ein beklemmendes Gefühl, wenn man nicht einfach so sagen kann, dass man in diesem Land alles scheiße findet.“
Auch hinter dem Albumtitel und dem gleichnamigen Song „Pure Vernunft darf niemals siegen“ steht eine politische Aussage. Das bänkelhafte Stück besingt die Sehnsucht nach Lügen, die einem das Ratio-geprägte Leben erklären und schön reden. „Die Begründungen für den größten Wahnsinn sind immer vernünftige“, so Zank.
Selbst einige der gefühlslastigen Stücke auf dem Album können sich der politischen Komponente nicht entziehen. „Gegen den Strich“, ein vom Rhythmus her recht poppiges Stück, singt von einem Liebespaar, verbündet „gegen die Welt“ und vor den „Spießern auf der Flucht“. Aber keine Sorge, nicht das gesamte Album strotzt vor Weltverbesserungswillen. Einen großen Teil nehmen auch träumerische Stücke wie „In höchsten Höhen“ oder Tag der Toten“, deren bildhafte Sprache in ferne Welten entführt.
Gitarrist und Sänger Dirk von Lotzow ist der Mann hinter den Texten, doch für das musikalische Ergebnis ist die gesamte Band verantwortlich. Neben von Lotzow sind das der Bassist Jan Müller, der Schlagzeuger Arne Zank und – neu hinzugekommen – der US-Amerikaner Rick McPhail ebenfalls an der Gitarre. „Ich habe auf der K.O.O.K.-Tour T-Shirts verkauft und während der Sommerfestivals Synthesizer gespielt“, erzählt McPhail von seinem ersten Zusammentreffen mit der gesamten Band. Für Tocotronic kam er als Retter der Live-Auftritte: „Nach dem letzten Album ,Hi Freaks‘ wurden wir vor das Problem gestellt, wie wir die Musik auf der Bühne umsetzen sollten. Uns kam die Idee, dass wir das auf jeden Fall zu viert machen müssten, und Rick hat sich da angeboten“, grinst Zank den Gitarristen an.
Musikalisch gesehen ist jedes der Bandmitglieder noch anderweitig umtriebig, doch die einzelnen Projekte stehen – zumindest bei „Pure Vernunft darf niemals siegen“ – in enger Beziehung zur Musik von Tocotronic. Für die zweite Single-Auskopplung im März 2005 plant die Band ein besonderes Schmankerl: „Mit den jeweiligen Solo-Projekten der einzelnen Mitglieder spielen wir Remixe oder Cover-Versionen von Album-Titeln ein“, erzählt Arne. Wer allerdings noch vor Weihnachten noch etwas von dem neuen Album hören möchte, dem macht die Webseite der Band Mut: „Schon ab Weihnachten ist das Stück ,Aber hier leben, nein danke‘ beim Downloadhändler deines Vertrauens erhältlich.“
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SPIEGEL
"Verweigerung als Prinzip"
Tocotronic gelten als die zornigen jungen Männer des deutschen Indie-Pop. Nächste Woche veröffentlicht die Hamburger Band ihr neues Album "Pure Vernunft darf niemals siegen". Mit SPIEGEL ONLINE sprachen die Diskurs-Rocker über Manierismus, Verweigerungshaltungen und die neue Deutschtümelei.
Rockband Tocotronic (Jan Müller, Dirk von Lowtzow, Rick McPhail, Arne Zank): "Man kann höchstens mit den Schultern zucken"
SPIEGEL: Das neue, siebte Tocotronic-Album heißt "Pure Vernunft darf niemals siegen". Hatten Sie sich mit der letzten Platte nicht endgültig von den vollmundigen Slogans verabschiedet?
Arne Zank: Das Faible für Slogans ist eigentlich immer gleich geblieben. Man hat sich eher selbst verbeten, so etwas zu machen, weil man andere Dinge in den Vordergrund stellen wollte. Diesmal hatten wir vielleicht wieder Lust und Mut dazu, diese Vorliebe herauszustellen.
Dirk von Lowtzow: Das mit den Slogans hatten wir immer, auch auf den letzten Platten noch: "Das Unglück muss zurückgeschlagen werden" oder "Alles wird in Flammen stehen". Als Stilmittel hat uns das immer interessiert. Das neue Album heißt "Pure Vernunft darf niemals siegen", weil dies das Stück ist, was musikalisch am meisten heraus sticht und auch eine recht zentrale Position auf der Platte einnimmt. Am Anfang hatten wir bei dem Titel noch etwas Bedenken, dass er aufgrund seiner Länge und Ungelenkigkeit doch sehr stark an frühere Album-Titel von uns anknüpfen könnte. Aber nach der immer weiter fortschreitenden Verknappung, von "Es ist egal, aber" zu "K.O.O.K" und zuletzt gar keinem Titel mehr, waren wir doch sehr zufrieden damit.
SPIEGEL: Ihre Song-Texte haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. Sie sind zunächst prosaischer, später phantastischer und visionärer, insgesamt viel schwerer greifbar geworden. Manche Kritiker sprechen von Manierismus und werfen Ihnen "Künstlergetue" vor.
Dirk von Lowtzow: Wenn ich Begriffe wie "Zaubermacht" oder "Antichrist" in meinen Texten verwende, birgt das natürlich eine Gefahr in sich. Man könnte sagen, dass es eskapistisch ist, was für mich aber nicht so relevant ist, weil ich glaube, dass man im Augenblick eher ein Problem der Flucht zur Realität hat, als dass Sachen zu eskapistisch sein könnten. Und der Vorwurf der Manieriertheit - klar, natürlich ist das manieriert. Aber das ist eben die Sprache, in der ich die Sachen am ehesten sagen kann, die ich sagen möchte. Und "Künstlergetue" - das steht doch immerhin im Gegensatz zu dem, was wir immer gewollt haben. Attribute wie "Bodenständigkeit" oder "Volksnähe" haben uns noch nie interessiert. Die früheren Texte haben doch auch schon eine sehr fremde Welt beschrieben. Und wenn man in einem Song wie "Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit" so etwas wie "Stracciatella oder Nuss" unterbringt, ist das auch manieriert. Das sind eben so kleine Fallen und Stolpersteine, die man sich selbst stellt und die man auch lustig findet. Aber Vorwürfen kann man grundsätzlich nicht begegnen. Man kann höchstens mit den Schultern zucken.
SPIEGEL: Im letzten Jahr konnte man eine Art Boom deutschsprachiger Popmusik feststellen: Viele Bands, die sich in ganz verschiedene Szenen aufsplittern, feiern Erfolge in den Medien und den Charts. Wie nehmen Sie so einen Trend auf?
Dirk von Lowtzow: Man nimmt das schon wahr, aber es ist eine missliche Sache, darüber Auskunft zu geben, weil man sich selbst nicht als Beobachter einer bestimmten Szene sieht. Das geht dann auch ganz schnell in die Richtung: "Die alten Hasen und ihre Meinung über...." und das ist eine eher unangenehme Position. Man möchte da einfach nicht so eine Kommentatorenrolle innehaben.
Arne Zank: Weil man sich selbst dann in so einer alten, weisen Position wiederfindet, in der man sich überhaupt nicht fühlt, weil man ja immer noch weiter macht und auch weiter machen möchte. Es ist ja auch überhaupt nicht unsere Aufgabe, da irgendwelche Prognosen über die Popkultur zu erstellen.
SPIEGEL: Anders gefragt: Seit einiger Zeit gibt es in der Kunst, also auch in der Popmusik, die Sehnsucht nach einem neuen deutschen Selbstbewusstsein. Dadurch scheint zumindest latent eine Art reaktionäre Deutschtümelei zu entstehen. Lässt Sie das kalt?
Tocotronic 2001: "Seit es die Band gibt, hat uns eigentlich die Angst umgetrieben"
Dirk von Lowtzow: Es ist ja nicht nur dieses Deutschsein oder diese Nationalisierung, sondern auch die Suche nach etwas Sinnlichem, etwas Greifbarem und etwas Narrativ-Volkstümlichem. Das ist es, was einen auch schon intellektuell anwidert, weil man noch vor fünf Jahren viel weiter in diesem Diskurs war. Und jetzt feiern wieder lauter reaktionäre Ansichten Triumphe. Tagespolitisch geht das ja sogar so weit, dass gesagt wird: Hurra, jetzt ist der Multikulturalismus am Ende und mit ihm auch die 'Political Correctness' - jetzt können wir endlich wieder unseren Ressentiments und Rassismen freien Lauf lassen. So was merkt man ja allerorten, wenn Sachen gesagt werden wie: "Endlich mal wieder schöne Malerei, endlich mal wieder ein Buch, das man verstehen kann." Das ist natürlich eine Entwicklung, die uns total gegen den Strich geht.
SPIEGEL: Sie haben sich immer ganz besonders vehement dagegen verwehrt, in eine Schublade gesteckt zu werden. Aber wie kann man sich als Band dauerhaft nach allen Seiten verteidigen und verweigern, ohne dass die eigene Kunst dabei beeinträchtigt wird?
Dirk von Lowtzow: Seit es die Band gibt, hat uns eigentlich die Angst umgetrieben, festgelegt, korrumpiert oder benutzt zu werden: Sei es nun als Aushängeschild der Jugend oder als Vertreter irgendeines neuen, deutschen Pop-Selbstbewusstseins. Wir hatten auch Angst vor so einer Konsolidierung, also dass man bis an sein Lebensende dazu verdammt ist, Trainingsjacken zu tragen und über Imbissbuden zu singen. Die Verweigerung und die Angst, eingepfercht zu werden, ist schon ein ganz starkes Prinzip, das bei uns als Band wirkt. All diese Ängste haben uns aber immer auch dazu angetrieben, bestimmte Sachen zu machen oder uns zu verändern.