Potzblitz! Donnerwetter! Da schau her! Meine Fresse! Gibt's ja gar nicht! Boah ey!
All das sind mehr oder minder deutsche Umschreibungen für den jiddischen Ausdruck Oi Va Voi, den Namen der britischen Klezmer-Crossover-Combo, der großes Erstaunen ausdrücken soll. Die Combo betritt Ende der Neunziger die Bühne und führt die verschiedensten Vorlieben der Gründungsmitglieder auf einen Band-Nenner. Ihr Faible für Klezmer, Jazz, Hip Hop, Rock, Drum'n'Bass und synthetische Clubsounds sind zwar nicht alle aus den Oi Va Voi-Outputs herauszuhören, aber was die Gründungsmitglieder da initiieren, ist allemal äußerst hörenswert und unterscheidet sich wohltuend vom typischen Pop-Einerlei.
Jonathan Walton (Trompete), Sophie Solomon (Violine), Josh Breslaw (Schlagzeug), Steve Levi (Klarinette), Gitarrist Nik Ammar und Bassist Leo Bryant heben Oi Va Voi aus der Taufe. Aus diesem Kollektiv ragt vor allem die 1978 in London geborene Violinistin Solomon heraus. Noch kaum im lauffähigen Alter, hält sie schon die Geige in der Hand und lernt als Vierjährige den großen Yehudi Menuhin kennen. Das führt letztendlich dazu, dass sie im National Children's Orchestra Unterricht erhält. Im klassischen Umfeld fühlt sie sich jedoch im Laufe der Jahre immer unwohler. So studiert sie an der Universität in Oxford moderne Geschichte und Russisch.
Die Beschäftigung mit dem slawischen Erbe führt sie auch nach Moskau, wo sie ein Jahr lang lebt und unter anderem ein Engagement als Jungle-DJane hat. Ausgiebige Reisen führen sie durch den Osten Europas. Dort saugt sie die musikalische Traditionen wie ein Schwamm in sich auf. Als sie nach Oxford zurückkehrt, trifft sie auf die oben erwähnten Musiker, die - wie sie selbst auch - allesamt einen jüdischen Background haben. Das Bandprojekt Oi Va Voi ist zu Beginn - der Name lässt es fast vermuten - eher eine Spaß-Angelegenheit. Sie spielen die althergebrachte Musik, die ihre Eltern schon gehört haben, und vermischen sie nach und nach mit eigenen Ideen. Aus Spaß wird relativ schnell Ernst. Aber statt sich auf den ersten Typen zu werfen, der mit einem Plattenvertrag in der Hand wedelt, feilen sie lieber an ihrem Sound und an ihren Live-Fertigkeiten.
Der erste selbst produzierte Output erscheint 2003 unter dem Namen "Digital Folklore". Hier sind noch die Club-Sounds dominant. Die Formation besteht bislang lediglich aus den Instrumentalisten und hat noch niemanden in ihren Reihen, der ans Mikro tritt und die Kompositionen stimmlich untermalt. Diese Person finden sie dann mit einer gewissen KT Tunstall, die fortan als fester Bestandteil der Live-Band mit ihnen auf der Bühne steht.
Unter Tunstalls Mithilfe entsteht das erste Album mit einem richtigen Vertrieb im Rücken. "Laughter Through Tears" heißt die Scheibe, die auf dem Weltmusik-Label Outcaste erscheint. Kritiker feiern das Album und die Band als neuen Stern am Himmel der Weltmusik, was ihnen letztendlich sogar einige renommierte Preise einbringt. So weit so gut, oder doch nicht? Zumindest gibt es nicht unbedingt viele Combos, die sich erst von ihrem Label trennen, ein Gründungsmitglied verlieren (Sophie Solomon) und trotzdem weiter machen. Zu allem Überfluss rennt ihnen auch noch Tunstall von dannen, die sich auf ihre Solo-Karriere konzentriert und den Oi Va Vois somit nicht mehr zur Verfügung steht.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass sie - nach unzähligen Auditions - die für sie perfekte Stimme finden. Die Dame, die fortan ihre Sangeskunst in den Dienst der Band stellt, heißt Alice McLaughlin; Solomons Posten nimmt die australische Violinistin Haylie Ecker ein. Mit neuen Tatendrang machen sie sich an die Aufnahmen zum Nachfolger des hoch gelobten "Laughter Through Tears", das unter dem schlichten Namen "Oi Va Voi" ab April 2007 in den Läden steht.
"Hier spricht Moskau, hier spricht Moskau! Es senden alle Radiosender der Sowjetunion. Wir senden die TASS-Mitteilung über den ersten Flug eines Menschen ins All ..."
Es war der 12. April 1961, als diese geschichtsträchtigen Worte rund um den Globus gingen, auf die sich der Opener des neuen Oi Va Voi-Albums bezieht. Da der Titel "Yuri" lautet, dürfte nicht allzu schwer zu erraten sein, wem die britischen Musiker hier ein Denkmal setzen. Und was für eines. Nach den einleitenden Worten des sowjetischen Offiziellen setzen sanfte Polka-Beats ein, ehe nach einer halben Minute der Gesang nachzieht. Ab diesem Zeitpunkt geht die Luzie nur noch ab. Flirrende Klarinette und eine dezente Bläsersektion unterstützen die nach vorne pumpende Rhythmik.
Bei der augenzwinkernd heiteren Thematik des ersten Allflugs der Menschheitsgeschichte klingt unterschwellig trotzdem etwas Kritik mit. Etwa in der Textzeile "Sie setzen mir ein Denkmal, benennen alles nach mir, Schulen und Krankenhäuser, Armeen von Jungen und Mädchen, ich werde ewig leben, Unsterblichkeit ist mein!" Dennoch: Genau diese Art Tracks sind es, die überholte Vorstellungen von Klezmer, musikalischem Balkanismus und Polka allgemein aus der verstaubten Ecke holen und auf die Tanzflächen der Clubs schubsen. Wer ein Ohr für osteuropäisch infizierte Klänge hat, kommt nicht umhin, hierin einen würdigen Anwärter auf den Song des Jahres zu sehen.
Wer nun - wie der demütige Schreiber dieser Zeilen - auf eine Fortsetzung hofft, dürfte etwas enttäuscht sein. Moment, Moment. Man beachte das Wort 'etwas'. Für lange Gesichter ist das zweite Album der Briten dann doch viel zu stark. Die Vehemenz des Openers führt zwar ein wenig in die Irre. Die bunte stilistische Vielfalt von "Oi Va Voi" lädt dennoch zum Schwelgen ein. Sängerin Alice McLaughlin jauchzt sich nämlich mit einer furchteinflößenden Inbrunst durch "Further Deeper", das sich im Dunskreis von Jazz, Klezmer, Trip Hop und Pop bewegt. Eine schön austarierte Instrumentierung kleidet die emotionale Verzweiflung der Dame passend aus.
Auch "Look Down" und "Dissident" schippern in ähnlich melancholischen Gewässern. Letztgenanntes klingt zwar gewöhnungsbedürftig - nicht jeder steht auf männlichen Operngesang in einem Popsong - der hymnenhafte Aufbau samt stetig steigender Spannungskurve sorgt jedoch für eine druckvolle Dynamik. Der Wechselgesang zwischen weiblichem Gesäusel und dem wehklagenden männlichen Widerpart ist ein Paradebeispiel für eine gelungene Dramatik abseits von kitschig-klitschigen Pfaden. Die melodramatischen Aspekte lässt "Balkanik" außen vor und präsentiert uns stattdessen - wie es der Name verheißt - tanzbare, mit etwas Elektronik verzierte Tröten-Sounds im Gypsy-Gewandt. Launig, aber etwas unspektakulär.
McLaughlin setzt mit ihrem wunderbaren Gesang einen weiteren Glanzpunkt, wenn sie beklagt, dass sie von all den Klischees genug hat. "Black Sheep" lebt neben Alices rauchig-zartem Duktus auch von orientalisch klingenden Streicher-Sätzen, die sich sehr passend und überhaupt nicht aufgesetzt klingend um die Melodien der Singstimme ranken. Erneut bricht eine schwermütige und sehnsuchtsvolle Traurigkeit durch die Komposition, die die der Text passend unterstützt: "I'm sending out this tune, to places I once knew, to all the people I have lost, I'm sending out this tune to another place and time, to another day in my live". Bitte liebe Alice! Nicht sterben, das wäre wirklich zu schade.
Damit all diese Tragik den Hörer emotional nicht an die Wand fährt, streuen Oi Va Voi ein entspannendes Instrumental ein ("Nosim"), ehe McLaughlin wieder das stimmliche Szepter übernimmt und erneut zeigt, weshalb die Band so glücklich über ihren Einstieg war. Die gute Dame hat ein äußerst gutes Händchen, die tragischen Seiten des Lebens vokal auszukleiden. "Worry Lines" - diesmal mit männlichem Gesang - kommt im trippigen Oufit daher. Trompete und Geige betten sich harmonisch in das relaxt tönende Sound-Kostüm und geleiten aus einem wahrhaft tollen, emotionalen Album aus.
Ach ja, die Auflösung der ominösen Worte zu Beginn: "Der Pilot des Raumschiffes, des Sputnik Wostok, ist der Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Fliegermajor Juri Alexejewitsch Gagarin." Darauf mal einen Wodka. Nasdarovje!