Nur wenige Musiker verfügen über ein dermaßen breites musikalisches Spektrum wie der vierzigjährige aus Detroit stammende Pianist, Keyboarder und Sythesizer-Spezialist Craig Taborn, der vor kurzem mit seiner ersten ECM-Pianosolo-CD die internationale Kritik begeisterte. Zu seinen stilistischen Einflüssen zählen die Jazz-Avantgardisten der 50er und 60er Jahre von Sun Ra bis Cecil Taylor, aber auch Olivier Messiaen, der HipHop oder der Techno-Sound seiner Heimatstadt, wo er unter anderem mit dem legendären Produzenten Carl Craig zusammenarbeitet. In Jazzkreisen wurde Craig Taborn vor allem durch seine Engagements bei James Carter und bei Roscoe Mitchell bekannt. All diese unterschiedlichen Einflüsse kommen nun im gleichermaßen virtuosen wie eigenwilligen Spiel Craig Taborns zum Tragen, das durch unglaublich hypnotische Grooves mit organischen Übergängen in freie Improvisationen geprägt ist. Hier prallen Free Jazz, Techno und zeitgenössische Klassik aufeinander und ergeben ein stimmiges Ganzes, als ob sie immer schon zusammengehört hätten.
Manche Plattenlabels verbindet man mit einem bestimmten Sound oder mit einer bestimmten Ausprägung eines musikalischen Stils. Auch, wenn das Repertoire von ECM records weit darüber hinausreicht: ECM steht in den Augen vieler Jazzfans vor allem für alte und junge, immer wieder neue und vor allem phänomenale Jazzpianisten, von denen am bekanntesten sicherlich Keith Jarrett sein dürfte. Doch ECM steht auch für die Überschreitung musikalischer Grenzen und die Bereitschaft der Künstler dieses Labels, diese „Politik“ schon mal mitzumachen. Und so gibt es von Keith Jarrett (um bei dem Beispiel zu bleiben) nicht nur so tolle Solopiano-Jazzalben wie etwa „The Melody At Night, With You“ bei ECM, sondern eben auch Jarretts Darbietung der 24 Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch.
Eine neue Stimme im Reigen der ECM-Klaviergrößen ist der bislang wohl nur hartgesottenen Jazzern bekannte US-Pianist Craig Taborn, der einmal (so informiert mich „wikipedia“) in der Band von James Carter gespielt haben soll — und dieser Name sagt einem ja schon etwas mehr.
Taborns ECM-Debüt „Avenging Angel“ (übersetzt also in etwa „Racheengel“) kann jedoch stilistisch in keine Schublade gesteckt werden. Ist es Free Jazz? Nein, denn dazu sind zu viele „Songs“ doch viel zu strukturiert und melodiös. Ist es Minimal Music? Nein, denn dazu ist das meiste auf der CD deutlich zu diffizil, und es geht hier viel zu sehr die Post ab. Ist es etwa „Neue Musik“ – also im engeren Sinne „E-Musik“? Ich denke, da kämen wir der Sache schon näher, doch vielleicht ist der das Album wie ein roter Faden durchwebende „Gesamtgroove“ am Ende doch eher Jazz!? Nein, das ist doch ganz klassischer Kontrapunkt! Oder nicht!?
Kurz und gut: „Avenging Angel“ ist das Album, das in keine Schublade passt. Wie schön! Denn für ein Schubladendasein ist die Scheibe auch einfach zu schön, zu sperrig, zu groß.
Craig Taborn ist mit „Avenging Angel“ ein ganz großer Wurf gelungen, und ECM darf stolz darauf sein, ein so wunderbares Album veröffentlichen zu dürfen — auch wenn die Anzahl der Kunden, die sich für solche Musik interessieren, womöglich ziemlich „überschaubar“ bleiben dürfte. Taborns erste ECM-CD ist erfreulicherweise weder etwas für unterkühlt-loungige Cocktail-Schlürfer, noch etwas für hochgeistige Avantgarde-Snobs, noch etwas für eingefleischte Jazz-Puristen. Es ist einfach ein Album für Leute mit richtig gutem Musikgeschmack — und ich nehme polemischerweise mal an, da bleibt heutzutage vielleicht noch ein knappes Prozent der „Masse“ übrig. Oder sehe ich die Dinge zu schwarz? Ich würde es mir wünschen, denn „Avenging Angel“ gehört gehört! Mit Worten kann man der faszinierenden Klangwelt des Craig Taborn nämlich nicht beikommen. Beim nächsten Stopp im Plattenladen Eures Vertrauens bitte auf jeden Fall mal einen Probedurchlauf wagen!
Respekt vor jedem einzelnen Ton – Der Pianist Craig Taborn und der Klang in der Stille
Verhandlungen mit dem Unterbewussten. Der Klang in der Stille und das Langsame im Schnellen. Der Pianist Craig Taborn gibt Einblicke in seine Klangwelt. „Selbst in einem ganz stillen Raum ist genug Klang, um mit einer Improvisation zu beginnen, bevor ich eine einzige Note spiele“, sagt Taborn.
Ein Ton. Sonst nichts. Auf diesen Ton folgt nicht etwa ein weiterer Ton oder Stille, sondern etwas Unbeschreibliches, das man am besten mit einem Nicht-Ton beschreiben kann. Etwas, das mehr ist als Stille, das hörbar wird. So beginnt “Avenging Angel“, das vierte Album des amerikanischen Pianisten Craig Taborn, das Mitte dieses Jahres bei ECM erschienen ist. “Avenging Angel“ ist nicht nur ein weiteres Piano-Solo-Album unter vielen anderen. Die CD beschreibt etwas, das in dieser Qualität noch nie hörbar gemacht wurde, meint Wolf Kampmann, der Autor dieser Jazzfacts-Ausgabe.
Da vollzieht sich „eine Aufspaltung des einzelnen Tons in seine Bestandteile“, sagt Kampmann, „eine Art spirituelle Klangspaltung, die den musikalischen Augenblick auf völlig neue Weise manifestiert.“ – „Ich bin immer tief in die Klänge eingedrungen“, sagt Craig Taborn im Interview, „aber je älter ich werde, desto wohler fühle ich mich damit, selbst Klänge hervorzubringen. Wenn ich improvisiere, brauche ich nichts darüber hinaus. Natürlich gibt es viele Aspekte, die man dem hinzufügen kann, um Musik zu machen. Strukturelle Ideen, theoretische Modelle, Stile, was immer Du willst. Mir persönlich hilft es, auf den Klang zu vertrauen. Wie man Musik macht, hängt immer auch vom persönlichen Zugang zur Welt ab. Ich setze mich ans Klavier und höre. Selbst in einem ganz stillen Raum ist genug Klang, um mit einer Improvisation zu beginnen, bevor ich eine einzige Note spiele“, sagt Taborn.
Im Gespräch mit Craig Taborn schließt Kampmann diese nicht für jedermann gleich zugängliche Welt auf. Nach Kampmanns Einschätzung scheint Taborn auch live, den Körper tief über die Tastatur gebeugt, seine Umgebing geradezu zu inhalieren, um sie in exakt demselben Moment wie ein Klangpolaroid wieder von sich zu geben.