Mino Cinelu
Quest Journey
Es ist kaum vorstellbar, daß jemand, der sich für zeitgenössischen Jazz oder anspruchsvolle Popmusik interessiert, kein einziges Album besitzt, auf dem sein Name nicht auftaucht. Spätestens seit 1981, als der damals 24jährige französische Percussionist auf Miles Davis' fulminantem Live-Album "We Want Miles" ins internationale Rampenlicht trat, sollte der Name Mino Cinelu buchstäblich jedem Jazzfan geläufig sein. In den darauffolgenden Jahren begleitete Cinelu den legendären Trompeter noch auf "Star People", "Decoy" sowie "Amandla" und war an der Einspielung der beiden letzten Weather Report-Alben "Sportin' Life" und "This Is This!" beteiligt.
Danach konnte der hochmusikalische Percussionist über Mangel an Arbeit nicht mehr klagen. Jedes Jahr wurde die Liste der illustren Namen, mit denen er live und/oder im Studio gespielt hatte, länger und länger. Im Jazzbereich gesellten sich zu Miles und Weather Report noch Dizzy Gillespie, Gil Evans, Pat Metheny, Cassandra Wilson, Herbie Hancock, Antônio Carlos Jobim, Wayne Shorter, Buckshot LeFonque (a.k.a.Branford Marsalis), Al DiMeola, Paquito D'Rivera, Geri Allen, Gato Barbieri, George Duke, Marcus Miller, Christian McBride, Jacky Terrasson, Eliane Elias, Robin Eubanks, Nguyên Lê, David Sanborn, Gong, Toots Thielemans, Pino Daniele, Andy Summers u.v.a. Die gehobene Popwelt eroberte Mino Cinelu an der Seite von Sting, Carlos Santana, Tori Amos, Laurie Anderson, Lou Reed, Tracy Chapman, Sophie B. Hawkins, Duncan Sheik, Michael Franks, Peter Gabriel, Joe Cocker, Elton John, Salif Keïta, Chaka Khan, Curtis Mayfield, Joni Mitchell, Youssou N'Dour, Bonnie Raitt, Patti Smith, James Taylor, Stevie Wonder, Emmylou Harris, Charles Aznavour etc.
Als Cinelu dann 1999 endlich sein erstes Soloalbum "Mino Cinelu" (EmArcy 546 403-2) vorlegte, konnte er auf einen immensen Erfahrungsschatz zurückgreifen, den er in rund zwanzig Jahren im Zusammenspiel mit den Besten der Besten der Jazz- und Popwelt zusammengetragen hatte. Zwanzig Jahre, in denen Mino Cinelu immer wieder musikalische Grenzen überschritt, den Alben anderer Künstler seine ureigene Nuance beimischte und einen Hauch von Exotik verpaßte.
Daß man eines Tages mit einem Soloalbum des charismatischen Künstlers rechnen könnte, deutete sich zuerst 1995 an, als Cinelu mit dem Bassisten Dave Holland und dem Gitarristen Kevin Eubanks für das deutsche Label Intuition das Album "World Trio" einspielte. Noch mehr Spielraum gewährte ihm sein Duo-Partner Kenny Barron auf dem 1996 erschienenen Album "Swamp Sally" (Verve 532 268-2), einem wahren Meisterwerk des sensiblen musikalischen Crossover, das damals leider nicht die Beachtung fand, die es verdiente.
Auf seinem Debütalbum bewies Mino Cinelu dann nachhaltig, daß er weit mehr als nur einer der weltbesten Percussionisten ist. Tatsächlich hatte Cinelu, der 1957 als Sohn einer französischen Mutter und eines aus Martinique stammenden Vaters in Saint-Cloud (bei Paris) geboren wurde, bevor er auf Schlagzeug und Percussion umsattelte, erst einmal Gitarre spielen gelernt. Seine unglaublichen Talente als Percussionist schulte er, indem er zu afro-kubanischen Platten aus der Sammlung seines Vaters mitspielte. "Ich wußte damals allerdings nicht, daß auf all diesen Platten mehr als nur ein Percussionist spielte", erzählte er einmal amüsiert. "Also versuchte ich, diese vielschichtigen Rhythmen irgendwie ganz alleine nachzuspielen und entwickelte auf diese Weise eine ziemlich ausgefallene Technik."
Auf seinem ersten Soloalbum, auf dem ihn lediglich Gitarrist Mitch Stein und Bassist Richard Bona begleiteten, konnte man den Percussionisten außerdem noch an diversen Gitarren, Bandoneón sowie Flöte hören, und auch als Sänger und Komponist hinterließ er dort einen exzellenten Eindruck. "Ich brauche einfach verschiedene Klänge und muß eine Geschichte erzählen können", meint Cinelu. "Wenn man nur verschiedene Rhythmen aneinanderreiht und keine Geschichte zu erzählen hat, dann ist das für mich sterile Musik. Meine Alben sollen aber in erster Linie meine Geschichte erzählen. Meine Musik soll die Musik reflektieren, mit der ich aufwuchs, aber auch die, die ich heute höre. Meine Alben sollen wie Reisen sein, bei denen ich möglichst viele verschiedene Orte besuche, aber immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehre. Dieser Bezugspunkt, der eine Verbindung zwischen den diversen Reisezielen herstellt, ist sehr wichtig."
Auf "Quest Journey" setzt Mino Cinelu, der vorletztes Jahr zum "Chevalier dans l'Ordre des Arts et des Lettres" (Ritter des Ordens der Künste und der Literatur) ernannt wurde, die Reise durch seinen ganz persönlichen musikalischen und scheinbar grenzenlosen Kosmos fort. Stärker noch als auf dem ersten Album tendiert er diesmal in Richtung progressive Popmusik und gibt dem Gesamtklang des Albums durch die Verwendung von Turntables und programmierten Beats einen noch moderneren Anstrich. Obwohl Mino Cinelu hier stellenweise ganz heftig mit der zeitgenössischen Dancefloor-Musik flirtet, vergißt er darüber nie seine eigentliche musikalische Identität, die im rhythmischen und harmonischen Reichtum der Karibik, Südamerikas, Afrikas und des Jazz wurzelt.
Bei der Auswahl der Musiker, mit denen er "Quest Journey" realisierte, setzte Mino Cinelu weniger auf große Namen, als vielmehr auf stilistische Kompatibilität. Neben Mitch Stein, der ihm ja schon bei seinem Debüt zur Seite stand, sind die Gitarristen Bill Frisell und Gerry Leonard (David Bowie, Holly Cole, Duncan Sheik), Keyboarder Don Blackman (Parliament/Funkadelic, Kurtis Blow, Roy Ayers), die New Yorker DJs Logic (Medeski, Martin & Wood, Vernon Reid, Sex Mob) und Nickodemus (Giant Step), Sänger Toni Smith (T.M. Stevens, Tom Browne, Lesette Wilson), Rapper Lioness und Bassist Leo Traversa (Tania Maria, Don Byron, Joyce) zu hören.
Wer die gehobene Popmusik etwa eines Peter Gabriel, Sting oder Robbie Robertson mag und auch keine Angst vor dem Kontakt mit zeitgenössischen Dancefloor-Grooves und exotischeren Rhythmen hat, dürfte am neuen Album von Mino Cinelu seine helle Freude haben. Einige Takte des Openers von "Quest Journey" konnte man übrigens schon letztes Jahr im Werbespot für das Herren-Eau de Toilette "Boss Bottled" kennenlernen.